Jemand, der sich, wie ich, in jungen Jahren politisch eingerichtet, als Linker, als Kommunist gar, dann aber, der Bevormundung des eigenen Denkens satt, diese Bindungen durchbrochen und sich seine eigene Meinung zu allem und jedem gestattet hat, liest gewiß gerne, wie andere ähnliche Prozesse für sich beschreiben, wie Weltbilder ins Rutschen geraten: Vom anderen Ausgangspunkt aus zu durchaus ähnlichen Ergebnissen, nein: eher Fragen. Matthias Matussek, ehemaliger Kulturchef des Spiegel, schreibt in Spiegel-Online unter dem Titel: “Krise des Konservativen” wie er “aus Versehen ein Linker wurde.” Lesenswert. Nein, ein Muß, ein unbedingtes Muß.
“Sein Vater war CDU-Politiker, er selbst kiffte und lebte in einer Mao-WG – zum Linken aber wurde Matthias Matussek erst jetzt in der Krise. Denn die Konservativen führen seiner Ansicht nach einen Klassenkampf von oben: Sie zertrümmern Werte, heiligen Kaltschnäuzigkeit und öde Lifestyle-Spießerei”, heißt es im redaktionellen Vorspruch. Bei Matusseks war man konservativ. Als Jugendlicher ein bißchen rebellig, als Erwachsener, als Familienvater aber wieder durchaus konservativ. Wie tausende andere auch. Auch als Konservativer, so Matussek, habe man die Chile-Politik der USA für verbrecherisch halten können, den “Irak-Krieg für eine Katastrophe und die Geschäfte der Waffenlobby für eine Schweinerei”. Man müsse sich um eine bessere Welt kümmern, und zwar “nicht durch Invasionen, sondern durch fairere Verteilung der Reichtümer und behutsameren Umgang mit der Natur. Natürlich sollten wir ökologisch denken, also grün, aber was denn sonst!”
Der aktuelle deutsche Wahlkampf lasse die großen Themen bislang “links” liegen und für die Journalisten sei die Lage klar: Steinmeier abgemeldet, weil er nicht demagogisch genug ist. Lafontaine, weil zu demagogisch. Die Grünen wollten zwar das Richtige, aber seien meist falsch angezogen. Die einzige tatsächliche Opposition sei Gregor Gysi und der sei belastet. Das “Wahlvolk” trotte verdrossen, politikabgewandt und amüsierbereit durch die Innenstädte.
“Stattdessen erleben wir einen verspäteten Kulturkampf, in dem die bürgerliche Mitte die 68er ein weiteres Mal besiegt (…). Das konservative juste milieu, das gerade die allerschwersten ökonomischen Panikattacken hinter sich hat, ist damit beschäftigt, sich auf die Schulter zu klopfen, mit geradezu unerträglicher Selbstzufriedenheit. Woher nimmt es die? Das Land hat sich verändert und ich mich auch. Ich bin mittlerweile, so ganz aus Versehen und vorerst in Ermangelung anderer Positionsbeschreibungen, links. Zunächst ist es ein ästhetischer Abwehrreflex. Der konservativen Intelligenz ist die Welt ein süffisantes Glossenthema. Man sensibilisiert sich allmählich für ihren verkicherten Tonfall. Sie hält sich die Welt auf Armeslänge wie den stinkenden Hering aus Schweden.”
Dem Konservativismus, mit dem Matussek groß geworden ist, wäre “über diese Blasiertheit der Kragen geplatzt. Er hatte mit der Bergpredigt zu tun. Er fand, dass uns das Elend der anderen angeht, dass Eigentum verpflichtet. Er hätte die gigantische Umverteilung der vergangenen zehn Jahre – den Rückgang der Reallöhne um 4 Prozent, die Steigerung der Unternehmensgewinne um 60 Prozent – als Skandal gesehen. Eigentlich muss Gregor Gysi nur diese Zahlen nennen und ansonsten den offiziellen Armutsbericht der Bundesregierung hoch- und runterbeten, und der Konservativismus, den ich kennengelernt habe, hätte ihm grimmig zugestimmt.” Und weiter: “Nicht nur er. Die letzte Enzyklika des Papstes, “Caritas in veritate”, drehte sich um nichts anderes als um Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Sie beschwört im Übrigen die Gefahr, dass eine Wirtschaft ohne Verantwortungsethik sich selbst zerstören wird. Wir indes erleben, wie der konservative Klassenkampf von oben total geworden ist, ökonomisch genauso wie mental. Er hat Werte zertrümmert, radikaler, als es die Linke je vermocht hätte. Er hat ein kaltschnäuziges System geschaffen, das dem abgehängten Rest der Gesellschaft nach unten zuruft: Strengt euch gefälligst an.”
Doch gehe es nicht nur um den Kampf gegen die Armut. Die “Vergötterung des Geldes” habe uns auch seelisch verarmt. Wo es Widerstand geben sollte, kämpfe jeder einstweilen taumelnd für sich gegen die Angst, nicht gebraucht zu werden. Eine Angst, die wahrscheinlich noch größer sei als die Sorge ums tägliche Brot. In anderen Ländern, den Niederlanden oder England, bemühen sich nach Matussek die Konservativen um eine Antwort auf die Krise, christlicher Kommunitarismus, ethical capitalism, Stärkung der Zivilgesellschaft. Bei uns hingegen sei “der Konservativismus zu einer öden Lifestyle-Spießerei und verspäteten Abrechnungen mit dem linken Gegner von einst abgesunken”.
Starker Tobak. Und würzig.
Da fragt man sich beim lesen ja schon, ob man nicht irgendwie auf den Kopf gefallen ist.