Tag: 20. Dezember 2009

“Intellektuelle Legasthenie”

Juli Zeh schreibt mir aus der Seele. In der Welt. Man lese und staune. Unter der Überschrift “Selbstgewählte Dummheit” polemisiert die junge Schriftstellerin und Juristin gegen den Sieg des Körpers über den Kopf in unserer Gesellschaft. Vier Millionen bundesdeutsche Erwachsene gelten als funktionale Analphabeten. Unsere Schulkinder haben Probleme mit dem Lesen. Weil Astrid Lindgren für einen durchschnittlichen Achtjährigen zu schwierig ist, werden in Schulbüchern vereinfachte Fassungen bekannter Texte veröffentlicht, Lindgren light. Eine Untersuchung der Universität Dortmund ergab, daß nur noch die wenigsten Studenten einen komplexen und abstrakten Text durchdringen, “weshalb nicht mehr von Lesefaulheit, sondern von “intellektueller Legasthenie” zu sprechen” sei. Ein Blick in die Schlagzeilen der letzten Monate beweise das. “Während sich Studenten und Schüler gegen die Auswirkungen der Bologna-Umstellung wehren, kämpfen Presse und Politik lautstark gegen H1N1. Die Bundesländer haben 600 Millionen Euro, also einen Betrag, der in etwa dem geschätzten Gesamtaufkommen der Erststudiengebühren im Wintersemester 09/10 entspricht, für einen Impfstoff ausgegeben, der von der Bevölkerung nicht angenommen wird und deshalb zur Kostendeckung ins Ausland verscherbelt werden muss. Bislang hat Deutschland 94 Schweinegrippe-Opfer zu verzeichnen. Auf “normale” Influenza sind, je nach Statistik, 6000 bis 20 000 Todesfälle pro Jahr zurückzuführen.” In einer Demokratie seien politische Entscheidungen auf eine gesamtgesellschaftliche Prioritätensetzung zurückzuführen. “Wenn für Bildung auf politischer Ebene notorisch das Geld und auf privater Ebene notorisch die Zeit fehlt, dann stellt dieser Zusammenhang keinen Zufall dar. (…) Wer keine Zeit hat, ein Buch zu lesen, während es für die tägliche Stunde Fitnesscenter oder Yoga durchaus reicht; wem ein Theaterbesuch zu teuer ist, die neue Anti-Falten-Creme mit dreifachem Wirkstoffkomplex aber nicht; wer politische Demonstrationen sinnlos findet und am Wochenende mit Tausenden von Gleichgesinnten in bunten Wurstpellen durch die Innenstadt joggt – der muss sich nicht wundern, wenn sein Kind in der Schule Lindgren light zu lesen bekommt.” Wer wissen wolle, wie es um unsere Präferenzen bestellt ist, müsse nur die Gehirnwaschmaschine namens Werbung einschalten. “Ob Fernsehen, Radio oder Plakate – gezeigt werden nicht Menschen, die 23 mal 7 im Kopf multiplizieren, “Satellit” buchstabieren oder das deutsche Wahlsystem erklären können. Sondern solche, die jung, schön und leistungsfähig sind, weil sie das Richtige essen, die richtige Kosmetik benutzen und mehr Vitamin-Präparate als Bücher im Schrank haben. Auch der Spam in meinem E-Mail-Postfach bietet keine Goethe-Gesamtausgaben, sondern Schwanzverlängerungen und Diätprogramme an. Es lebe der Körper. Bildung ist unsexy.” Dahinter stecke ein Paradigmenwechsel, der die geistigen Qualitäten des Menschen von Platz Eins der Werteskala verdrängt habe und das materiell Messbare über alles setze. Das sei Ausdruck der umfassenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche, nach deren Gesetzen Zeit niemals mehr als Geld sein kann und kurzfristige Effizienzerwägungen mehr zählen als das längerfristig angelegte humanistische Bildungsideal. “Der ideale Mensch von heute muss funktionieren. Er darf nicht nur nicht krank sein, er muss sich auch sonst stets innerhalb der Norm bewegen. Das Verbot von Abweichungen wird mit Kostenrelevanz begründet. Entgegen dem Gerede von gesellschaftlicher Solidarität lädt jeder Bürger Schuld auf sich, dessen individueller Weg die sogenannte Gemeinschaft teuer zu stehen kommt. Deshalb muss sich ein Student, der länger als acht Semester die Uni besucht, ebenso schämen wie ein dicker Mensch, der als potenzieller Herzpatient eines Tages erhöhte Pflegeleistungen in Anspruch nehmen könnte. So kommt es, dass Juraprofessoren weitgehend ungehört darüber klagen, dass angehende Anwälte nicht mehr in der Lage sind, einen korrekten Satz zu formulieren, während sich Volksbegehren mit Rauchverboten beschäftigen und das Gesundheitsministerium die Hälfte der Bundesbevölkerung für fettleibig erklärt.”

Hauptsache, wir sind gesund.

Skilifte, Tiere und Hotels

Angefangen habe ich mit diesem Blog, weil ich im Zusammenhang mit der vergangenen Kommunalwahl Kritik geäußert habe an den Strategien und am Auftreten von Parteien hier in Wermelskirchen, an ehrenamtlichen Parteivertretern und Kommunalpolitikern. Die Lust aber, sich einzumischen, Kritik zu formulieren, Parteivertretern aufs Maul zu schauen, diese Lust läßt doch gewaltig nach angesichts dessen, was professionelle Politiker, Parteien und Parteivertreter auf Bundes- oder Landesebene so alles zu Wege bringen. Wachstumsbeschleunigungsgesetz, so nennen CDU, CSU und FDP ein Gesetz, das Hoteliers fördert, Kinder armer Familien aber, die auf Sozialtransfers angewiesen sind, gegenüber Kindern wohlhabenderer Familien benachteiligt oder das Erben der Schwester vom Bruder erleichtert. Der komplette Wirtschaftsverstand des Landes, alle Experten ohne jede Ausnahme, alle Beobachter halten dieses Gesetz für vollständigen Unsinn und keinesfalls für eine Maßnahme, die Wachstum beschleunigen könnte. Gleichwohl: Die verantwortlichen Parteien, CSU, FDP und CDU, sind vollkommen beratungsresistent. Skilifte ermäßigter Mehrwertsteuersatz – Babywindeln voller Steuersatz, Tierfutter ermäßigt – Arzneimittel voll. Deutschland im Jahre 2009, dem Jahr der weltweiten Finanzkrise: Wir fördern Skilifte, Tierhalter und Hotels. Hört sich nicht nur bescheuert an – ist auch so. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund beziffert die Mindereinnahmen aus dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz mit 1,6 Mrd. Euro jährlich und fordert eine Kompensation für Städte und Gemeinden. “Die kommunalen Haushalte sind komplett überfordert, die Finanzlage vieler Kommunen ist verheerend, uns droht die Handlungsunfähigkeit”, so Dr. Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes. Die Steuereinnahmen brechen immer weiter ein, allein bei der Gewerbesteuer ist ein Rückgang von über 17 % zu verzeichnen. Gleichzeitig explodieren die Sozialausgaben und werden im nächsten Jahr über 41 Mrd. Euro ausmachen. Die Städte und Gemeinden werden gezwungen, die Leistungen für die Bürger weiter einzuschränken, die Investitionen zurückzufahren und die Verschuldung weiter zu erhöhen. Wachstum? Beschleunigung? Da kann man nur noch irre kichern. Und man wird milde, ausgesprochen milde angesichts dessen, was Kommunalpolitiker in den vergangenen Wochen und Monaten so angerichtet haben.