Eine Scheibe Welt – Gedanken zum Ortsverein

Der Ortsverein ist die heile Welt des Sozialdemokraten, auch des Gast-Sozis. Im Ortsverein ist die Welt noch in Ordnung. Hier erhält der Sozialdemokrat Orientierung für die verwirrenden Prozesse in Politik, Wirtschaft, Medien, Alltag, Kirche oder Gewerkschaften. Hier trifft er auf Gleichgesinnte, auf Solidarität, auf Empathie. Hier werden die entscheidenden Debatten für den Kurs der gesamten Partei, mithin auch der gesamten Gesellschaft geführt. Hier wird entschieden, über die Zukunft des Gemeinwesens. Der Ortsverein ist Welt, mindestens aber das Tor zur Welt. Man kann nicht bundesunmittelbares Mitglied einer Partei sein in Deutschland, da sei das Parteiengesetz vor. Man kann auch nicht Mitglied eines Landesverbandes werden. Man ist Parteimitglied durch die unmittelbare Verbindung zum Ortsverein. Es gilt in allen Parteien das strenge Örtlichkeitsprinzip. Mit anderen Worten: Man kann sich seine Gleichgesinnten gar nicht aussuchen. Man ist Sozialdemokrat am Ort. Die Gleichgesinnten sind schon da, bevor man Mitglied wird oder Gast. Die eigene Aktivität, die eigene Leidenschaft, der eigene Veränderungswille, die Bereitschaft, sich einzumischen, mitzutun, aktiv zu werden, steht und fällt mit der Verfassung der Partei im Ortsverein.   Wie erlebt nun der gemeine Sozialdemokrat oder der noch gemeinere Gast-Genosse seinen Ortsverein? Erstens erlebt er ihn zwei- oder dreimal im Jahr. Mitgliederversammlung, Jahreshauptversammlung, Wahlauswertung, bestenfalls noch eine besinnliche Weihnachtsrunde zum Jahresausklang. All diese Veranstaltungen machen schnell deutlich: die passive Partei-Mitgliedschaft ist heute die Regel. In den Versammlungen trifft sich nur noch der “harte Kern”, treffen sich die Unentwegten, jene, die noch nicht aufgegeben haben angesichts spröder Regularien, die die meisten Sitzungen beherrschen. Da müssen Delegierte gewählt werden, Ersatzdelegierte, Kassenprüfer, Beisitzer, Mandatsprüfer, Wahlausschüsse. Da werden Berichte gehalten, aus den Untergliederungen der Partei, dem Vorstand, der Fraktion, den Arbeitskreisen, und schließlich der Kassenbericht. Allesamt selten prickelnd. Allesamt selten prickelnd formuliert. Die Mitglieder des Ortsvereins beugen sich einem “quasi-hegemonialen” Regelwerk, wie es Hanno Burmester, 2006 bis 2009 Mitarbeiter in der SPD-Parteizentrale und in der SPD-Bundestagsfraktion, heute Berater für politische Presse-und Öffentlichkeitsarbeit, im Freitag formuliert hat. Der harte Kern, jene Mitglieder, die sich von Zeit zu Zeit noch auf den Versammlungen des Ortsvereins blicken lassen, gehören unterschiedlichen Gruppen an. Die kleinste Gruppe stellen die Mitglieder ohne Funktion, ohne Amt, ohne Mandat. Die größeren Gruppen stellen jeweils die Mitglieder und Mitarbeiter der Fraktion und die Mitglieder und Mitarbeiter des Ortsvereinsvorstandes. Im kleinen Ortsverein, im Ortsverein einer kleinen Stadt ist nicht ohne weiteres sofort auszumachen, wer die Partei führt und wer die Fraktion. Die Grenzen sind fließend. Die Folge: Die kommunalpolitische Debatte, die politische Debatte wird gefiltert vom kommunalpolitischen Expertentum der Fraktion. Ist das Thema wichtig für den Stadtrat und sein Ausschüsse, haben wir dort Handlungsmöglichkeiten, können wir Mehrheiten erzielen? Stehen Verwaltungsvorschriften im Wege, sind alle Gesetze beachtet, lassen sich Gleichgesinnte finden in anderen Fraktionen? Politik, Kommunalpolitik wird aus dem Fokus der Fraktion entwickelt, bewertet, kritisiert, unterstützt oder bekämpft. Der Mikrokosmos Stadtrat, Stadtverwaltung, Ausschüsse, Kreistag, Kreisverwaltung, Bürgermeister, Landrat bestimmt, beschreibt, begrenzt Politik.Das Gespräch mit dem Bürger, die Öffnung der Partei, der Dialog mit Menschen anderer oder unterschiedlicher politischer Auffassungen kann unter solchen Ortsvereinsbedingungen nicht wirklich gepflegt werden. Man bleibt unter sich. “Die politische Arbeit vor Ort ist nur noch ein Geist ihrer selbst. Ortsvereine sind sozialer Treffpunkt einiger Unbeirrbarer, zumeist ausschließlich mit sich selbst beschäftigt und für das kommunale politische Leben wenig bedeutsam.” So beschreibt es Hanno Burmester. Dabei zeigen uns die Vorgänge um Stuttgart 21, daß viele Menschen, vermutlich mehr, als in Parteien organisiert sind, durchaus sehr interessiert sind an Politik, an Kommunalpolitik, an Mitwirkung, an Einmischung. Nochmal Hanno Burmester: “Nicht Politik, sondern Parteipolitik steht unter Beschuss. Die Bürgerschaft bekundet der repräsentativen Demokratie ihr Misstrauen – und zeigt gleichzeitig, dass sie am demokratischen Prozess teilhaben möchte. Die Menschen demonstrieren nicht gegen einen Bahnhof, sondern gegen einen Parteienstaat, der den demokratischen Bedürfnissen nicht gerecht wird. Volk und Volksvertreter sind sich nicht nur fremd geworden. Sie haben eine tiefe Abneigung gegeneinander entwickelt. Es gibt keine gemeinsame Sprache, kein gemeinsames Verständnis von Politik und Partizipation. Stuttgart 21 ist Ausdruck der kollabierenden Parteiendemokratie.” Mir scheint, daß die mehr als siebentausend von einer siebzehnjährigen Schülerin gesammelten Unterschriften hiesiger Bürger gegen die Verlegung der Polizeistation Wermelskirchen den gleichen Befund wiedergeben. Bürger und Parteien sprechen nicht mehr unbedingt die gleiche Sprache. Was den Bürgern Problem ist, wird von der Mehrheit der Parteien am Ort als ordentliches Verwaltungshandeln qualifiziert. Jedenfalls war es kein Anlaß für die Parteien und die Kommunalpolitiker, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das Gespräch zu suchen, sich einzumischen, den Vorgang zu beschreiben, zu werten, für Zustimmung zu werben. Ergebnis: Die Parteien, mein Ortsverein inklusive, haben, mal wieder, eine Politikgelegenheit ausgelassen. “Politisch aktive Bürger wollen mehr als Zugehörigkeit und Präsenzrecht. Sie wollen inhaltlich mitgestalten und mitbestimmen, wollen inhaltliche Expertise im Zweifel punktuell und konzentriert einbringen – ohne sich dies durch ewige Präsenz im Hinterzimmer verdienen zu müssen. Dieser Trend verstößt jedoch gegen die Prinzipien der Ortsvereinsarbeit. Deshalb blühen NGOs und Bürgerinitiativen, die neue Formen bürgerschaftlichen Engagements geschickter für sich zu nutzen wissen als die Parteien.” Der Ortsverein macht die Welt zur Scheibe. Im abgeschotteten Raum des Kneipenhinterzimmers regieren Selbstgenügsamkeit und Intransparenz und wird kein Blick frei auf die pralle Welt der Kugel. Das gilt im übrigen alles nicht nur für den sozialdemokratischen Ortsverein. Der christdemokratische Ortsverband, der freidemokratische Stadtverband, der Ortsverband der Linken, sie alle kränkeln gleichermaßen. Die Entfremdung zum Bürger ist das Merkmal heutiger Parteien. “Die Parteien haben trotz dieses desaströsen Status Quo immer noch nicht begriffen, wie irrelevant sie für das Alltagsleben der Bürgerschaft inzwischen geworden sind. Mehr öffentlicher Veränderungsdruck tut Not. Wir können die Krise der repräsentativen Demokratie nicht einfach aussitzen. (…) Die Gesellschaft muss sich in ihrem Engagement, ihrem Veränderungstempo und ihrer politischen Kultur nicht an die Parteien anpassen. Die Parteien müssen mit der Gesellschaft Schritt halten. Sonsten gehen sie unter. Und mit ihnen unser Gemeinwesen. (…) Die Reform der Parteienlandschaft ist kein Expertenthema, sondern eine Kernfrage für die Zukunft unseres Gemeinwesens. Hier haben auch Bürger ohne Parteibuch ein Mitspracherecht. Denn die Parteiendemokratie gehört uns allen.” Soweit der Schlußbefund von Hanno Burmester.

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