Monat: Mai 2014

Grundgesetz II

Ein wundervoll bündiger Satz – „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ – geriet 1993 zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinander gestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: daß Deutschland das Asyl als ein Grundrecht praktisch abgeschafft hat. Muß man tatsächlich daran erinnern, daß auch Willy Brandt, nach dem heute der Platz vor dem Bundeskanzleramt benannt ist, ein Flüchtling war, ein Asylant? Auch heute gibt es Menschen, viele Menschen, die auf die Offenheit anderer, demokratischer Länder existentiell angewiesen sind – und Edward Snowden, dem wir für die Wahrung unserer Grundrechte viel verdanken, ist einer von ihnen. Andere ertrinken jeden Tag im Mittelmeer, jährlich mehrere Tausend und also mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch während unserer Feierstunde. Deutschland muß nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen. Aber es hat genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittländer abzuwälzen. Und es sollte aus wohlverstandenem Eigeninteresse anderen Menschen eine faire Chance geben, sich um die Einwanderung legal zu bewerben, damit sie nicht auf das Asylrecht zurückgreifen müssen. Denn von einem einheitlichen europäischen Flüchtlingsrecht, mit dem 1993 die Reform begründet wurde, kann auch zwanzig Jahre später keine Rede sein, und schon sprachlich schmerzt der Mißbrauch, der mit dem Grundgesetz getrieben wird. Dem Recht auf Asyl wurde sein Inhalt, dem Artikel 16a seine Würde genommen. Möge das Grundgesetz spätestens bis zum 70. Jahrestag seiner Verkündung von diesem häßlichen, herzlosen Fleck gereinigt sein. Dies ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir kennen. (…) Aufs Ganze betrachtet, geht es in Deutschland ausgesprochen friedlich, immer noch verhältnismäßig gerecht und sehr viel toleranter zu als noch in den neunziger Jahren.  Ohne es eigentlich zu merken, hat die Bundesrepublik – und da spreche ich noch gar nicht von der Wiedervereinigung! – eine grandiose Integrationsleistung vollbracht. Vielleicht hat es hier und dort an Anerkennung gefehlt, einer deutlichen, öffentlichen Geste besonders der Generation meiner Eltern gegenüber, der Gastarbeitergeneration, wie viel sie für Deutschland geleistet hat. Doch umgekehrt haben vielleicht auch die Einwanderer nicht immer genügend deutlich gemacht, wie sehr sie die Freiheit schätzen, an der sie in Deutschland teilhaben, den sozialen Ausgleich, die beruflichen Chancen, kostenlose Schulen und Universitäten, übrigens auch ein hervorragendes Gesundheitssystem, Rechtsstaatlichkeit, eine bisweilen quälende und doch so wertvolle Meinungsfreiheit, die freie Ausübung der Religion. Und so möchte ich zum Schluß meiner Rede tatsächlich einmal in Stellvertretung sprechen und im Namen von – nein, nicht im Namen von allen Einwanderern, nicht im Namen von Djamaa Isu, der sich fast auf den Tag genau vor einem Jahr im Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt mit einem Gürtel erhängte, weil er ohne Prüfung seines Asylantrages in ein sogenanntes Drittland abgeschoben werden sollte, nicht im Namen von Mehmet Kubasik und den anderen Opfern des Nationalsozialistischen Untergrunds, die von den ermittelnden Behörden und den größten Zeitungen des Landes über Jahre als Kriminelle verleumdet wurden, nicht im Namen auch nur eines jüdischen Einwanderers oder Rückkehrers, der die Ermordung beinah seines ganzes Volkes niemals für bewältigt halten kann –, aber doch im Namen von vielen, von Millionen Menschen, im Namen der Gastarbeiter, die längst keine Gäste mehr sind, im Namen ihrer Kinder und Kindeskinder, die wie selbstverständlich mit zwei Kulturen und endlich auch zwei Pässen aufwachsen, im Namen meiner Schriftstellerkollegen, denen die deutsche Sprache ebenfalls ein Geschenk ist, im Namen der Fußballer, die in Brasilien alles für Deutschland geben werden, auch wenn sie die Nationalhymne nicht singen, im Namen auch der weniger Erfolgreichen, der Hilfsbedürftigen und sogar der Straffälligen, die gleichwohl genauso zu Deutschland gehören, im Namen zumal der Muslime, die in Deutschland Rechte genießen, die zu unserer Beschämung Christen in vielen islamischen Ländern heute verwehrt sind, im Namen also auch meiner Eltern und einer inzwischen sechsundzwanzigköpfigen Einwandererfamilie – möchte ich sagen und mich dabei auch wenigstens symbolisch verbeugen: Danke, Deutschland.

 

Aus der Rede von Dr. Navid Kermani anläßlich des fünfundsechzigsten Geburtstages des Grundgesetzes

Würde

Wenn ich einen einzelnen Tag, ein einzelnes Ereignis, eine einzige Geste benennen wollte, für die in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Wort Würde angezeigt scheint, dann war es – und ich bin sicher, daß eine Mehrheit im Bundestag, eine Mehrheit der Deutschen und erst recht eine Mehrheit dort auf der himmlischen Tribüne mir jetzt zustimmen werden – dann war es der Kniefall von Warschau. (…)  Dieser Staat hat Würde durch einen Akt der Demut erlangt. Wird nicht das Heroische gewöhnlich mit Stärke assoziiert, mit Männlichkeit und also auch physischer Kraft, und am allermeisten mit Stolz?  Hier jedoch hatte einer Größe gezeigt, indem er seinen Stolz unterdrückte und Schuld auf sich nahm – noch dazu Schuld, für die er persönlich, als Gegner Hitlers und Exilant, am wenigsten verantwortlich war –, hier hatte einer seine Ehre bewiesen, indem er sich öffentlich schämte, hier hatte einer seinen Patriotismus so verstanden, daß er vor den Opfern Deutschlands auf die Knie ging.

Aus der Rede von Dr. Navid Kermani anläßlich des fünfundsechzigsten Geburtstages des Grundgesetzes 

Tam-Tam

Nun muß nicht jede Partei einen ausgewiesenen Sozialwissenschaftler in den Reihen ihrer örtlichen Gliederungen haben oder einen Experten für statistische Untersuchungen. Wenn man als lokale Partei aber dafür stadtbekannt ist, sich aufzublasen und zu blähen schon für genuin politische Aktivitäten zu halten, wäre eine Rückversicherung bei einem Experten für sozialwissenschaftliche oder statistische Untersuchungen schon ganz hilfreich. Damit ein Rest von Glaubwürdigkeit bleibt, wenn man die Menschen in der Kommune befragt. Eine statistische Untersuchung, hier die als Befragung getarnte Verteilung von Postkarten, vor allem durch den örtlichen Edekamarkt an die Wermelskirchener Wahlbevölkerung durch die WNK, steht und fällt mit der Fragestellung. Wenn man wirklich herausfinden will, was Wähler zu bestimmten lokalen Themen und Problemstellungen denken, dann kann man etwa offene Fragen stellen und damit den Befragten die Gelegenheit geben, gänzlich ohne Vorgaben differenziert zu antworten. Oder man sieht mehrere unterschiedliche Antwortmöglichkeiten vor, zwischen denen sich die Angesprochenen wirklich entscheiden können. Fragt man indes danach, ob man für die Schaffung und den Erhalt von fußläufig erreichbaren Lebensmitteläden im Stadtzentrum und den Stadtvierteln sei, kann einem schon der gesunde Menschenverstand, also ein Verstand weit vor sozialwissenschaftlicher Spezialkompetenz samt Grundwissen in der Auswertung statistischer Verfahren, vor der Befragung sagen, daß, abgesehen von den Voten wirklicher Idioten, kaum Neinstimmen zu erwarten sein werden. Warum auch? Und genauso verhält es sich auch mit zwei weiteren Fragen: Ist man für oder gegen die Beseitigung der Industrieruine Rhombus? Wer könnte wachen Sinnes mit Nein stimmen? Neben den bereits genannten Idioten doch bestenfalls die ein, zwei Exemplare aus dem Messiefreundeskreis “Wir lieben das Marode des Zerfalls”, die man hier in Wermelskirchen finden dürfte, wenn überhaupt. Die Postkartenwurfaktion entpuppt sich also bereits beim ersten Hinsehen als irgendetwas, jedenfalls nicht als eine Befragung. Wo die Antwort keinen Sinn hat, stiftet auch die Frage keinen. Die nicht unter Betreuung stehenden Bürger dieser Stadt können nur mit Ja antworten. Ähnlich verhält es sich mit der Frage, ob man für oder gegen den Erhalt des Lochesplatzes als zentralen Kirmes-, Park- und Veranstaltungsplatzes sei. Die nun von der WNK präsentierten “Ergebnisse” unterstützen diese These. Mehr als neun von zehn “Befragten” antworten mit Ja. Erwartungsgemäß. Nun kann man das alles aber nicht als sozialwissenschaftliche Schwäche werten, sondern eher als demagogische Stärke. Die Mitglieder und Verantwortlichen der WNK, soweit ich sie kenne, sind allesamt durchschnittlich bis überdurchschnittlich kluge Menschen. Denen ist das alles völlig klar und einsichtig, was ich hier schreibe. Aber es geht ja auch nicht um Klugheit, sondern um Politik und Moral. Und in dieser Hinsicht gilt die Feststellung, daß auch die größte Klugheit einzelner die Gruppe der WNK nicht davon abhalten konnte, einen vermeintlichen Coup, einen Wahlkampfcoup zu landen. Frage das Selbstverständliche, das Nicht-Entscheidbare und du bekommst ein hohes Ergebnis. Zwei weitere Fragen gab es noch. Eine nach der Verlegung des Wochenmarktes auf den historischen Marktplatz und eine nach der Ansiedlung eines XXL-Supermarktes auf dem Rhombusgelände. Hier handelt es sich um die einzigen Themenstellungen, bei denen die Ja-Nein-Auswahl sinnvoll ist. Irgendwie war es ja allen Beobachtern klar, daß sich eine Mehrheit gegen den Markt auf den Marktplatz aussprechen würde, weil es dort zuwenige Parkmöglichkeiten gibt und die schiefen Ebenen keinen optimalen Standort bieten. Zudem war es absehbar, daß die Umfrage der WNK eine wenn auch dünne Mehrheit für die Ansiedlung eines Edekamarktes auf dem Rhombusgelände ergeben würde. Sonst hätten sich die WNK-Befrager ja wenige Tage vor der Kommunalwahl öffentlich ein Eigentor attestieren müssen. Und was zuvor schon klar war, ist hernach auch eingetreten. Knappe Mehrheit gegen den Markt auf dem Markt und knappe Mehrheit für den XXL-Markt auf Rhombus. Mit anderen Worten, die Befragung, die keine war, ist bloßes Wahlkampftamtam. Dem Befragungstamtam folgt das Auswertungstamtam. Tamtam mit bunten Balkengrafiken. Tamtam mit der jedenfalls in sozialwissenschaftlicher Hinsicht frechen Behauptung, die “Befragung” sei repräsentativ, weil ja fast alle Wermelskirchener Bürger die Möglichkeit gehabt hätten, an der Befragung teilzunehmen. Tamtam. Aufgeblasenes Tamtam. Eine Stichprobe ist dann repräsentativ, wenn von ihr auf die Grundgesamtheit geschlossen werden kann. Wenn sie also mit Blick auf die Fragestellung die Meinung der Gesamtheit ausdrückt. Nicht umsonst steht und fällt die Wissenschaft der Statistik mit der Kunst der Stichprobenbildung. Das lernt man in jedem Statistik-Proseminar. Die WNK hat keine Stichprobe gezogen. Das kann sie vermutlich auch gar nicht. Das könnte keine Partei am Ort. Aber sie bläst sich  auf. Mal wieder. Der Statistikfachmann der WNK, Dr. Werner Güntermann, versteigt sich gar zur Behauptung in der Presse, weil sich eintausendachtundachtzig Bürger unter Angabe ihres Namens beteiligt hätten, “sei das Ergebnis ein repräsentatives Meinungsbild”. MuhahaDoktortiteltamtam. Erst dieses Zitat in der Bergischen Morgenpost hat mich darauf gebracht, mir die Auswertungsdaten von der WNK zu besorgen. Ich wollte nämlich nicht glauben, was ich dort gestern habe lesen dürfen. Irgendein Praktikant, so meine erste Vermutung, hat kenntnislos schreiben dürfen. Aber nein, weit gefehlt. Der Chef war’s. Persönlich. Aus seiner Feder stammt die vollkommen kritikfreie Würdigung der “Befragung”. Die Morgenpost als Wahlkampfbüttel für die WNK. Auch auf lokaler Ebene wird die Presse als vierte Gewalt begriffen. Über Politik und staatliche Macht, über Parteien und Politiker wird berichtet, die Presse kritisiert, wenn Kritik notwendig ist, stellt richtig, wenn Politik und Politiker falsch liegen, Öffentlichkeit wird herstellt, wo Geheimniskrämerei stattfindet. In diesem Sinne fällt die Hälfte der hiesigen Presse als Teil der vierten Gewalt aus, jedenfalls vor der Kommunalwahl. Schade.