In Zeiten wie diesen, in denen der öffentliche Diskurs durch eine zunehmend enthemmte Aggression vergiftet wird, tut es gut, sich der eigenen Anfälligkeit für Irrtümer gewahr zu bleiben. Wenn die absolute Wahrheit für uns nicht zu haben ist, wenn es uns nur möglich ist, “Wahrheitsähnliches” zu erblicken, dann sollten sich manche dogmatischen Ideologien, manche finsteren Tonlagen, manch scharfer Angriff auf Andersdenkende erübrigen. Die Bereitschaft, den kritischen Zweifel nicht nur gegen andere, sondern auch gegen eigene Eindrücke und Überzeugungen zu richten, schwächt keineswegs die eigene Position, sondern schützt hoffentlich vor verletzenden Grobheiten und verfeinert gleichzeitig die Gründe, die für die eigenen Ansichten angeführt werden. Sich zu fragen, was gegen die eigenen Überzeugungen spricht, eigene Widersprüche oder Ambivalenzen aufzufächern, hilft vielleicht, sich dem Wahrheitsähnlichen zu nähern. Meine Klavierlehrerin aus Kindertagen hat mich einmal ermahnt mit dem stilprägenden Satz: “Wenn du schon falsch spielst, dann wenigstens präzis.” Sich zu verspielen, das war ihrer Auffassung nach tolerabel, aber ungenaues Haspeln, das war unverzeihlich. Manchem, der sich auf der Straße, in Gesprächssendungen oder im Parlament äußert, möchte man eine solche Klavierstunde empfehlen. Vielleicht würde es helfen, zu einem zivilisierteren Miteinander zurückzufinden.
Carolin Emcke, Irren, in: Süddeutsche Zeitung vom vierzehnten November Zweitausendfünfzehn