Tag: 21. November 2015

Singular

Was es braucht als zivilgesellschaftliche Reaktion, ist stattdessen ein Plädoyer für den Singular, für das abweichende Individuelle, das einzigartige, zarte Subjektive, nicht zuletzt, weil es das ist, was dem terroristischen Wahn am meisten widerspricht. Es braucht ein Europa, das sich nicht aufspaltet in Muslime und Nicht-Muslime, sondern eines, das sich auffächert in eine unüberschaubare Vielfalt an einzigartigen, eben singulären Wesen mit einer unüberschaubaren Vielfalt an Eigenschaften jenseits von Herkunft und Glauben. Singuläre Individuen, die auf ihre je eigene Weise glauben, lieben, trauern; die furchtlos oder furchtsam weiterleben, die zustimmen oder widersprechen, und die sich nicht um jeden undemokratischen Preis wappnen wollen, weil eine dünne Haut vielleicht nicht schützt, aber auch nicht unempfindlich macht. Das Singuläre ist keineswegs einfach bloß das egoistisch Einzelne, es beinhaltet und bedingt das Mit- und Füreinander. Das Individuelle, von dem hier die Rede ist, lebt nicht einfach bloß isoliert oder asozial, es sieht sich immer schon anderen Individuen gegenüber, an denen die eigenen Perspektiven und Wünsche sich brechen oder spiegeln. “Das Singuläre ist von vornherein jeder Einzelne, folglich jeder mit und unter allen anderen”, schreibt der französische Philosoph Jean-Luc Nancy in “Singulär plural sein”. Also: “Das Singuläre ist ein Plural.” Nur wenn dieses vielfältige Singuläre geschützt und gefördert wird, kann ein Miteinander gelingen. Nur wenn nach wie vor jede Form des individuellen Einspruchs und Zweifels nicht nur gestattet, sondern erwünscht ist, ohne gleich der Verharmlosung von Terrorismus bezichtigt zu werden, kann die offene, plurale Gesellschaft geschützt werden. Und zu guter Letzt: Nur wenn das reflexhafte Einfordern von kollektiver Einigkeit wieder abebbt, werden auch jene Jugendlichen wieder als einzigartige Individuen wahrnehmbar, die sich womöglich noch ansprechen und abbringen lassen von der manipulativen Einladung der Dschihadisten, die Anerkennung und Sinn versprechen, wo nur Tod und Zerstörung warten. Auch sie können und müssen zu jenem singulären Plural gehören, der Europa ausmacht.

Carolin Emcke, Singular, in: Süddeutsche Zeitung vom einundzwanzigsten November Zweitausendundfünfzehn