Die Praxis des Lügens kann aus unterschiedlichen Formen des Falschsprechens bestehen, und es lohnt, sie auszubuchstabieren, damit das Spektrum ihrer vergiftenden Wirkung im öffentlichen Raum deutlich wird. Es gibt das Falschsprechen über sich selbst aus Eitelkeit: Eigene Taten oder Eigenschaften werden vergrößert, verschönert, erfunden. Das sind die Lügen eines Aufschneiders. Es gibt das Falschsprechen über sich selbst aus List: Die eigene Geschichte wird verändert und manipuliert, um zu täuschen. Das kann geschehen unter Umständen, die das Falschsprechen als einzige Möglichkeit des Überlebens notwendig machen. Oder aber aus reiner Lust am Betrug, am Gewinn, den die Täuschung bringen mag. Es gibt das Lügen über andere, das ihrem Ruf schaden oder sie entwerten soll. Das sind falsche Tatsachenbehauptungen, die verleumden und herabwürdigen.
Der amerikanische Präsident Donald Trump beherrscht das gesamte Repertoire an Lügen. Er prahlt, er täuscht, er manipuliert und er diffamiert. Manchmal lässt sich nicht einmal mehr sagen, ob Trump seine Lügen selbst glaubt, ob es überhaupt die äußere Realität als Bezugsgröße für ihn gibt, ob er seine Aussagen noch meint abgleichen zu müssen mit beobachtbaren, überprüfbaren Daten und Fakten. Oder ob für diesen Präsidenten nichts als sein eigenes Wünschen und Wollen als objektiv zählt. Gewiss ist nur, Trump setzt die Lüge über echte oder eingebildete Gegner so systematisch ein, dass die maliziöse Absicht nicht zu verbergen ist. Das Unwahre, was Trump über Menschen verbreitet, denen er schaden möchte, wird noch gepaart mit pubertärem Spott und ausgewachsenem Hass.
Vordergründig versehren diese Lügen und Hetze vor allem die Personen, die sie treffen, die Menschen, denen Trump die Intelligenz (Waters) oder die Staatsangehörigkeit (Obama) abspricht oder die er gleich kollektiv zu “Feinden des Volkes” erklärt wie Journalistinnen und Journalisten. Sie werden so lange durch Lügen und Ressentiment dämonisiert, sie werden so lange zu etwas Minderwertigem oder Gefährlichem stilisiert, bis sie nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden, denen gleiche Rechte und gleicher Respekt zukommen. Die rhetorischen Angriffe entmenschlichen die anderen so lange, bis Gewalt gegen sie (von irren Einzeltätern oder terroristischen Netzwerken) als harmlos fantasiert werden kann. Wer immer als Absender der Briefbomben identifiziert und verhaftet werden wird, was immer die Motive der Täter sein mögen – der Präsident hat eine Unkultur der Menschenverachtung gefördert, die solchen Taten einen legitimierenden Kontext offeriert.
Aber die Lügen versehren langfristig noch mehr: Sie zerstören den Begriff einer geteilten Wirklichkeit.
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Das ist das Gefährlichste an dieser Politik der Lüge: dass sie nicht nur Personen vernichten will, sondern den Bezug auf eine Realität, die allen gemeinsam ist. Die permanente Desinformation zersetzt den öffentlichen Diskurs und unterwandert alle Begriffe, Normen und Institutionen, die eine Gesellschaft verbinden.
Carolin Emcke, Trump fördert eine menschenverachtende Unkultur, in: Süddeutsche Zeitung vom siebenundzwanzigsten Oktober Zweitausendachtzehn