Mein Vater hätte heute Geburtstag, den sechsundneunzigsten. Hätte, weil er doch bereits sehr früh verstorben ist, mit Neunundfünfzig schon. Das ist nun bereits siebenundddreißig Jahre her. Eine lange Zeit. Sehr lange. Er hat den Niedergang der DDR nicht erlebt und die Wiedervereinigung der beiden Deutschländer. Er, der als Kommunist doch Hoffnungen hegte auf ein besseres Deutschland, das er im Osten vermutete. Er hat seine Enkel nicht aufwachsen sehen und konnte die Kinder nicht als Erwachsene erleben. Er hat den Aufstieg einer Partei mit rechtsextremem Flügel und ihren Einzug in den Bundestag nicht verdauen müssen. Und die antisemitischen Exzesse auf bundesdeutschen Strassen nicht. Er hat den Niedergang seiner Partei, der Kommunisten in Deutschland, und der Sozialdemokraten, in der viele seiner Freunde versammelt waren, nicht erlitten. Erich hat auch nicht mitgelebt, wie sein Sohn Filme fürs Fernsehen produziert und selbst erstellt hat. Das hätte ihn gewiß sehr interessiert. Die digitale Welt der Tablets und Mobiltelefone, eine globalisierte Welt, in der Informationen in Bruchteilen von Sekunden überall auf der Erde zur Verfügung stehen, das war noch keine Herausforderung für meinen Vater Erich. Die Möglichkeit des Bloggens wäre gewiß ein Reiz für ihn gewesen, ein Anreiz, da er doch immer mal wieder geschrieben hat in seinem Leben, Briefe, Texte zur politischen Lage, Einschätzungen und Aufgabenstellungen in seiner gewerkschaftlichen Arbeit. Die hochdigitalisierte Medienwelt mit weltweiten Lügen und Fakenews, Tee-Party, Trump, Johnson, die Eliten- und Wissenschaftsfeindlichkeit eines gehörigen Teils der Menschen hierzulande, dumpf, empathielos, nationalistisch, rückwärtsgewandt, Haß und Beleidigungen als Beifang öffentlicher Kommunikation, mit all dem und vielem mehr hatte sich der belesene Arbeiter nicht auseinanderzusetzen. Die gefährliche Pandemie mit Kontaktsperren und erheblichen Einschränkungen des Alltagslebens, mit Einsamkeit und Alleinsein zu Hause mußte dieser Mann nicht durchleben, der als Siebzehnjähriger mit dem Panzer Lebensraum im Osten suchen mußte und erst mit Fünfundzwanzig aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft heimkehren durfte an den Rhein. Der Zerfall der Sowjetunion, der Wandel Russlands zu einer nationalistisch-imperialistischen Regionalmacht ohne die Merkmale eines Rechtsstaates, einer gewachsenen Demokratie, das hätte ihn, der zum Freund der Sowjetunion und ihrer Bürger geworden ist nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht, in der Kriegsgefangenschaft, gewiß zugesetzt. Ihm war es nicht vergönnt, einen gemeinsamen Lebensabend mit meiner Mutter zu verbringen. Er starb, bevor er seine Rente in Anspruch nehmen konnte. Sehr krank, nach sehr langem Aufenthalt in Krankenhäusern. Erst, wenn ich ein wenig aufzähle, bilanziere, was ihm, Erich, erspart blieb und was er nicht erleben durfte, wird mir deutlich, wie schnell sich die Welt in den vergangenen vier Jahrzehnten dreht, wie beschleunigt Wandel sich vollzieht, wie grundlegend Erfahrungen sich ändern. Und: wie wichtig der Vater ist und wäre. Er hat mir siebenunddreißig Jahre gefehlt.