Tag: 20. September 2021

Wahlansichten

(…) Beatrix von Storch in Reizwäsche

Nächsten Sonntag dann also wählen. Wird auch Zeit. Schließlich sind in Folge des warmen Spätsommers viele dieser Plakate mit lächelnden Gesichtern oder/und nichtssagenden Sprüchen an den Laternenpfählen inzwischen auf Augenhöhe gerutscht und auf ohnehin nicht breiten Gehwegen im Viertel zum echten Verkehrshindernis geworden. Vielleicht könnten sie demnächst statt Kabelbinder mal Draht verwenden. Dehnt sich bei Wärme nicht so aus. Oder diese ganze alberne Stadtvermüllung ganz lassen. Oder kennt irgendwer irgendwen, dessen Stimmabgabe mal durch so ein Plakat beeinflusst wurde? Vielleicht, wenn Beatrix von Storch sich mal in Reizwäsche ablichten ließe. Aber das möchte doch auch niemand sehen. Letztens kam mir ein Einzel-Wahlkämpfer am Waidmarkt auf dem Rad entgegen. Er hatte einen Anhänger dabei, der nach Marke Eigenbau aussah, und darauf hatte er ein großes Plakat montiert, das für die FDP warb, ohne dass Christian Lindner darauf abgebildet war. Ich wusste gar nicht, dass die Partei solche Werbeträger überhaupt hat. Ob der Mann auf dem Rad nun ein eifriger Sympathisant, ein angestellter Mini-Jobber oder ein Kölner Kandidat höchstselbst war, weiß ich nicht. Aber vermutlich wird auch er froh sein, wenn der Kampf am Sonntag ein Ende hat.


Deutsch für Deutsche

Der Dame und den beiden Herren, die ins Kanzleramt wollen, dürfte es kaum anders gehen. Seit Wochen tagsüber im Bus durch die Pampa schaukeln und auf Marktplätzen oder in Gemeindesälen die immer selben Reden halten – da hat der Spaß doch schon lange aufgehört. Und abends dann noch vor die Kameras. Vor rund zehn Jahren gab es höchstens zwei solcher Duelle im Ersten und im ZDF. Doch seit die Privaten Sender (mal wieder) eine Info-Offensive ausgerufen haben, gibt’s gleich drei Ausgaben dieser Redeshows. Und zwischendurch nahezu jeden Abend irgendwo ein Format, in dem Politiker Bürgerfragen beantworten sollen oder sich von Kindern über die Gefahren des Rauchens aufklären lassen müssen. Sehenswert wird sowas allenfalls, wenn Nachwuchsreporter auf ein schlichtes Gemüt wie AfD-Spitzenkandidat Tino Chrupalla treffen, der das „deutsche Kulturgut“ retten möchte. Auf die Frage, was das denn sei, antwortete der Mann: „Wir möchten, dass wieder mehr deutsche Volkslieder gelehrt werden, dass deutsche Gedichte gelernt werden. Dass wir auch unsere deutschen Dichter und Denker wieder mehr in den Schulen würdigen.“ Jawoll! Zu dumm nur, dass dem Denker Chrupalla auf Nachfrage nicht ein einziges Gedicht einfallen wollte. (…)

Reinhard Lüke, Bart-Shampoo für Dichter, in: Meine Südstadt

GESICHTER, OFT GEPAART MIT INHALTSLEEREN VERKAUFSPHRASEN“

Die Politik steht vor enormen Herausforderungen: Wie können wir die Klimakrise eindämmen und ihre jetzt schon nicht mehr vermeidbaren Folgen in den Griff bekommen? Wie machen wir unsere Altersversorgungssysteme fit für die Zukunft? Wie bringen wir die Digitalisierung auf eine Art und Weise voran, die den Menschen nützt – anstatt ihre Arbeitsplätze zu gefährden? Und wie gehen wir mit wachsenden sozialen Ungleichheiten und steigenden Migrationsbewegungen um? Das sind auch die Themen, die von den Menschen regelmäßig in Umfragen als die wichtigsten Probleme genannt werden. Im Wahlkampf tauchen diese Fragen allerdings kaum auf – obwohl es doch um die Auswahl der Parteien und Personen geht, die diese Probleme angehen sollen. Stattdessen sind auf Wahlplakaten überwiegend Gesichter zu sehen, oft gepaart mit inhaltsleeren Verkaufsphrasen. Der Rest der Wahlkampfenergie scheint weitgehend auf sogenanntes Negative Campaigning, also die Demontage politischer Gegnerinnen und Gegner, beschränkt zu sein. Anstatt um Sachfragen geht es viel um Personen, und das auf eine oftmals schmuddelige Art und Weise. Hinzu kommt eine verstärkte Lagerrhetorik: Links versus Rechts. Das kann man negativ als Polarisierung bewerten. Positiv ist daran allerdings, dass die Alternativen, die zur Wahl stehen, greifbarer und kontrastreicher werden. (…) In der Klimapolitik etwa scheint keine der im Bundestag vertretenen Parteien den Ernst der Lage erfasst zu haben.

Patrick Bernhagen, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart im Gespräch mit Wolfgang Weitzdörfer, in: „Die Politik steht vor enormen Herausforderungen“. Interview mit Politikwissenschaftler zur Bundestagswahl, Rheinische Post, Zwanzigster September. Patrick Bernhagen stammt aus Wermelskirchen.