Einundsiebzig

Einundsiebzig Jahre alt bin ich kürzlich geworden. Einundsiebzig Jahre habe ich in einem Deutschland und in einem Europa leben dürfen, das nach dem Zweiten Weltkrieg zwar keineswegs gewaltfrei war und ist, in dem es aber auch keinen verheerenden Krieg zweier oder mehrerer großer europäischer Staaten gegeneinander gegeben hat. Es gab und gibt Haß und Gewalt. Immer noch. Es gab und gibt Terror, Unterdrückung und Verfolgung. Es gab die gewaltsamen Konflikte auf dem Balkan. Es gab die regionalen Kriege am Südrand der ehemaligen Sowjetunion. Es gab die bürgerkriegsähnliche Gewalt in Nordirland. Es gab und gibt terroristische Gewalt ganz unterschiedlicher Couleur in vielen europäischen Ländern auch in der Mitte des Kontinents. Es gab den nach wie vor ungeklärten Konflikt im Mittelmeer zwischen türkischen und griechischen Zyprioten. Was es bis gestern nicht gegeben hat, war der Überfall der großen Landmacht Russland auf die einst befreundete Ukraine. Nazideutschland hatte die Ukraine einst überfallen. Die Ukraine und die ukrainische Bevölkerung haben dieses einzigartige Verbrechen erlitten und eine gewaltige Last an menschlichen, ökonomischen und kulturellen Opfern tragen müssen. Und nun der Überfall von Putins Rußland. Ich schäme mich und ich gestehe, daß mir diese Entwicklung große Sorge bereitet. Die Idee vom friedlichen und Frieden schaffenden Europa beginnt zu bröckeln. Übersteigerter Nationalismus, Großmachtssucht, die wirre Verklärungen einstiger politischer und militärischer Stärke, eine kraftlose, in die Vergangenheit gerichtete und überlebte Ideologie, was auch immer Wladimir Putin zum völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine bewogen haben mag, für keinen dieser Gründe kann man Verständnis aufbringen. Ein Land, eine Staatsführung, ein Herrscher, deren Kernkompetenz in der Bedrohung liegt, nicht in der Pflege gut nachbarschaftlicher Verhältnisse, deren Macht fußt auf der Verfolgung und Unterdrückung oppositioneller Kräfte im eigenen Land sowie in den Nachbarstaaten, in denen alte Weggefährten diktatorisch herrschen und an der Macht gehalten werden, deren strategische Option im Umgang mit Nachbarstaaten die Zersetzung ist, die Allianz mit Demokratiefeinden und Rechtsextremisten, die schmutzige Produktion von Lügen und Verschwörungsmythen, ein solches Land hat nichts beizutragen zu einer friedvollen Entwicklung des Kontinents. Krieg, Zersetzung, Nationalismus, Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit sind keine angemessenen Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart. Viele der ehemaligen Vasallenstaaten hatten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion meist nichts eiligeres zu tun, als Rußland zu entkommen und unter die Fittiche anderer Schutzmächte zu schlüpfen, NATO, EU. Grundlos?Ich schäme mich für jene im eigenen Land, die, oft unter Zuhilfenahme von Argumenten, die nach historischer Verantwortung klingen, eine Beschwichtigungspolitik in Richtung Moskau und seiner Vasallenstaaten betreiben. Oder, schlimmer noch, sich ohne jede wirtschaftliche Not in ökonomische und mithin auch politische Abhängigkeit Russlands begeben. Ich schäme mich für einen ehemaligen Kanzler, der Putin in Weißwaschermanier als „lupenreinen Demokraten“ zu adeln sucht. Es geht schon lange nicht mehr um einen Ost-West-Konflikt oder seine späten Auswirkungen. Wenn Donald Trump seinen Bro Putin für dessen Krieg gegen die Ukraine lobt, wird schlagartig klar, wie fatal, wie verkommen, wie heruntergewirtschaftet Politik in Europa auch sein kann. Die Haltung zum politischen Rußland dieser Tage scheidet Demokraten von Lumpen. Und schließlich: Das erste Opfer dieses geschichtsvergessenen Überfalls auf die Ukraine sind die Menschen in Rußland. Sie werden die Rechnung zahlen müssen, die die Weltgemeinschaft präsentieren wird. Sie und die Menschen in der Ukraine. Drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Großmacht Sowjetunion ist es hohe Zeit für Demokratie im Riesenreich vor und hinter dem Ural, für Entwicklung, für Frieden und Wohlstand und Kultur.

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