Der 24. Februar stellt womöglich doch eine Zeitenwende dar. Am Tag des Überfalls Russlands auf die Ukraine stellen die Menschen hierzulande nicht nur erneut fest, daß es sich in Rußland und in den meisten Staaten der ehemaligen Sowjetunion um Autokratien handelt, um Staaten, in denen die Macht in den Händen eines oder weniger einzelner liegt, und nicht um demokratische Gemeinwesen, in denen etwa Parlamente und Regierungen aus freien Wahlen hervorgehen, in denen die staatlichen Institutionen nach dem Prinzip einer Gewaltenteilung organisiert sind, in denen Rechtsstaatlichkeit vermittels einer unabhängigen Justiz herrscht und die Bürgerinnen und Bürger über verfassungsrechtliche Grund- und Freiheitsrechte verfügen. Das alleine wäre indes noch keine Zeitenwende, sondern allenfalls ein aktueller Abruf latent vorhandenen politischen (Vor-)Wissens.
Caroline Emcke formuliert in ihrer Kolumne in der Süddeutschen Zeitung, daß, was jetzt Zeitenwende genannt werde, die „verspätete, aber bedeutsame Einsicht in Europa“ sei, „dass nicht nur die Demokratien der anderen verwundbar sind, sondern auch die eigenen, dass die duldsame Gleichgültigkeit gegenüber der Menschenverachtung eines Autokraten nicht nur andere Gesellschaften schutzlos ausliefert, sondern auch die eigenen. Zerstoben der bequeme Glaube, die Demokratie sei eine stabile Ordnung, nichts Fragiles, was wir alle substanziell nähren und stützen müssen.“
Der Krieg gegen die Ukraine erschüttert die vermeintlich stabile demokratische Ordnung auf dem europäischen Kontinent und offenbart die eigentümliche Schwäche, nämlich die Fragilität der Lebensverhältnisse, in denen die Menschen, wir alle, fernab von Kriegen der Illusion stabiler Friedensverhältnisse in Zentraleuropa und gleichsam ewiger Republiken nachhängen.
Umgekehrt aber sind es die – wenn auch auch fragilen – Gesellschaftsentwürfe und die gelebten politischen Verhältnisse in den kapitalistischen Ländern Westeuropas, die eine eigentümliche Faszinosität auf die Menschen jenseits des einstigen „eisernen Vorhangs“ ausüben. Mehr als alle seit vielen Jahren in die politische Debatte eingebrachten Aspekte der Sicherheitsinteressen Rußlands und als vermeintlich nicht eingehaltene Zusagen für eine Nicht-Expansion der NATO, scheint die Attraktivität der westlichen Gesellschaftsentwürfe für die Menschen in Rußland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die eigentliche Bedrohung auszumachen, die die russischen Führer zur Aggression gegen ein Brudervolk im Nachbarstaat bewogen hat.
Viel gefährlicher als ein NATO-Rakenabwehrsystem in Rumänien oder High-Tec-Militärflugzeuge im Baltikum wäre die Entwicklung einer demokratische Zivilgesellschaft im eigenen Land, eine am Gemeinwesen orientierte Politik anstelle der kleptokratischen Autokratien in Rußland oder Belarus, sind Meinungs- oder Versammlungsfreiheit, freie Wahlen, freie politische Betätigung, unzensierte Medien, eine zivile Gesellschaft gänzlich ohne Polizeistaat und gegen die eigenen Bürger operierenden Geheimdienste. Wirtschaftliche Prosperität und mithin auch die Verbesserung der sozialen Lage der Mehrheit der Bevölkerung ist von kleptokratischen Polizeistaaten nicht zu erwarten, in Grenzen indes von demokratischen Staaten allemal. Für Putin, Lukaschenko und Konsorten liegt die Bedrohung in einem demokratischen und wirtschaftlich erfolgreichen Gegenentwurf in Belarus oder der Ukraine.
Das Rußland Putins ist immer beteiligt, wenn es gegen Demokratie geht, gegen Freiheit und Menschenrechte. Als Assad in Syrien auf Demonstranten schießen ließ, war Russland mit Waffen und Soldaten zur Stelle. Die kritisch über den Tschetschenienkrieg berichtende Journalistin Anna Politkowskaja wurde auf offener Straße erschossen. Ebenso der Oppositionelle Boris Nemzov. Die Punkband Pussy Riot verschwand im Arbeitslager. Auch der putinkritische Oligarch Michael Chodorkowski. Alexei Navalny sitzt im Gefängnis, nachdem er nur durch Glück den Giftanschlag des russischen Geheimdienstes überlebt hat. Die übergelaufenen Ex-Geheimdienstler Alexander Litvinenko und Sergej Skripal wurden vor den Augen der Weltöffentlichkeit in Großbritannien mit wahlweise Polonium bzw. Nowitschok vergiftet. Der oppositionelle Russe Selimchan Changoschwili wurde im Berliner Tiergarten von russischen Geheimdienstlern erschossen. Alexander Lukaschenko befindet sich in Minsk nur noch dank Putins finanzieller und militärischer Unterstützung auf dem Präsidentensessel. Rechtsextreme Parteien, der Front National, die AfD und viele andere, werden von Russland finanziell gefördert. Eine kritische Berichterstattung ist verboten. Das Wort „Krieg“ darf im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Ukraine nicht mehr öffentlich verwendet werden. Die staatlichen Medien sind gleichgeschaltet, private verboten oder unterdrückt. Die Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich um die Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen des stalinistischen Rußlands verdient gemacht hat, wurde verboten.
Kurzum: In Rußland unterdrückt die Diktatur einer kleinen Gruppe um Putin jedwede demokratische Regung der Menschen im Keim. Insoweit entfaltet selbst die fragile und stets gefährdete Demokratie der Länder Westeuropas eine ungeheure Kraft in Richtung Osten und stellt so die eigentliche Bedrohung für das System Putin-Lukaschenko dar.
Der Krieg gegen die Ukraine läßt die äußere Bedrohung unseres Gesellschaftsentwurfs, der der Zivilgesellschaft zugrunde liegenden Werte schlagartig deutlich werden. Zeitenwende eben. Schleichend indes, nur allzu langsam wird nunmehr auch deutlich, daß wir es seit geraumer Zeit auch mit „inneren“ Bedrohungen zu tun haben. Caroline Emcke schreibt dazu: „Eine demokratische Ordnung ist abhängig von einer intakten Öffentlichkeit, in der gesellschaftliche Meinungs- und Willensbildungsprozesse stattfinden können. Es sind diese Selbstverständigungsdiskurse, in denen wir, Bürgerinnen und Bürger, verhandeln können, wie wir leben wollen. Es sind diese diskursiven Strukturen, durch die sich das Regierungshandeln kritisch reflektieren und potenziell auch korrigieren lässt.“ Wenn der öffentliche Diskurs nicht mehr an Wahrheit und Fakten, an einer gemeinsam erfahrbaren Wirklichkeit orientiert ist, wenn sich Ressentiments und Wahn, Xenophobie, Wissenschaftsfeindlichkeit und Antisemitismus, Elitenfeindlichkeit und Spzialpathologie gegenseitig stimulieren, wird die Demokratie in ihrem Kern zerstört.
Noch einmal Caroline Emcke: „Es darf und muss gestritten, gehadert, gerungen werden um politische oder soziale Belange. Es können und müssen auch inmitten krisenförmiger Zeiten, ob in der Pandemie, in der Klimakrise oder im Krieg, ein Spektrum an Einschätzungen und Positionen erörtert werden. Aber manche Redaktion könnte sich schon auch befragen, ob irrationaler Humbug, zynisches Lügen oder dumpfes Ressentiment wirklich hofiert und normalisiert werden müssen. Das Unerhörte ist da allzu oft alltäglich geworden.“ Nicht zuletzt durch Zutun der Putins, Trumps und Lukaschenkos dieser Welt.