Tag: 21. Oktober 2022

Zivilgesellschaft

Als am Wochenende ein russischer Intellektueller und Schriftsteller, Viktor Jerofejew, Zweitausendzweiundzwanzig aus Rußland nach Deutschland emigriert, in der allsonntäglichen Fernsehgesprächsrunde mit sanfter Stimme, aber schneidendem Urteil beschrieb, daß dort in Rußland, in der Nachfolge der untergegangenen Sowjetunion, keine Zivilgesellschaft bestehe in dem Sinne, wie man das hierzulande kenne, da mochte ich sehr schnell einstimmen in die Beschreibung dieses Gastes, der und dessen Familie einst zur russischen Nomenklatura zählten. Meine eigenen Erfahrungen aus einer Reihe von Arbeits- und Aufenthaltsgelegenheiten in diesem schönen, großen Land waren, daß man auf sehr gebildete und hervorragend ausgebildete Menschen trifft, auf Wissenschaftler, Journalisten, Literaten, Historiker. Kennzeichen der Gesellschaft indes sind nicht das Argument und die Debatte, der Austausch und Wettbewerb der Ideen, sondern eher die Kraft und Macht des Starken, des Stärkeren und die Ohnmacht und der Rückzug der Schwächeren, die Unempfindlichkeit gegen Elend und Armut, mangelnde Empathie und verbreitete Achtlosigkeit. Wenn es im Zuge der Umwälzungen und Wirren der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhundert etwa möglich war, die Wohnung, die man in einem der unzähligen riesigen Wohnkomplexe bewohnte, kurzerhand zum Privateigentum zu erklären und fortan die Mietzahlungen sanktionslos einstellen konnte, kann man sich sogar vorstellen, daß und wie es möglich war, sich ganze Industrieunternehmen und gar Wirtschaftskomplexe unter den Nagel zu reißen und nunmehr privatwirtschaftlich zu betreiben. Nur eine Gesellschaft der Regellosigkeit und der Macht der Gewalt, die Herrschaft der Skrupellosigkeit und die vollkommene Unterdrückung von Gewissen und Verantwortung machen eine derartige Umwälzung und das Aufkommen von unkontrollierbaren Oligarchen möglich. Ein Volk, Jahrhunderte in Leibeigenschaft und Armut gehalten, nach der Revolution jahrzehntelang von der Despotie der Parteiherrschaft unterdrückt und zur Linientreue und der Vermeidung von Abweichungen gepreßt, hat auch nach dem Ende der Sowjetunion keine wirkliche politische Bildung erfahren. Rußland, die Sowjetunion und wieder Rußland haben nicht den neuen Menschen geschaffen und eine überlegene gesellschaftliche Ordnung von Demokratie und Zusammenhalt. Für eine gewisse Zeit gab es die Zügellosigkeit des Konsums und die oberflächliche Annäherung an westliche Lebensweisen. Die Zivilgesellschaft, die Gesellschaft entwirft, die streitet, die Unrecht aufdeckt und Korruption, die sich freie Medien gibt und Regeln für Zusammenhalt und Auseinandersetzung, die einen Rechtsstaat schafft und die Gewalt unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen zuweist, die freie Wahlen ermöglicht und den Austausch der Ideen, die ökonomische und andere Interessen kenntlich macht, eine solche Gesellschaft ist in Rußland nicht entstanden. In einer solchen Gesellschaft zu leben, ist unser Privileg, nicht wirklich unsere Leistung. Nach barbarischem Faschismus hat unser Land die Güte der Nachbarn erfahren und die Gnade der Weltkriegssieger. Die Erfahrungen aus Weltkrieg und der ersten Demokratie in Deutschland konnten mit Umerziehungs- und Demokratisierungsbemühungen sowie ökonomischer Prosperität unter glücklichen historischen Bedingungen in die Zivilgesellschaft münden, in die demokratische Verfassung, in das friedliche Land, das Deutschland heute sein will, ist. Nicht wirklich besser als seine Nachbarn, gottlob, aber auch nicht wirklich schlechter, vernünftig, verständig, zivilisiert, nicht aggressiv, kultiviert. So weit, so simpel. Und so falsch. Denn Groß Strömkendorf liegt in unserem Land, in Deutschland, in Nordwestmecklenburg. Dort konnten vierzehn Bewohnerinnen und Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft, überwiegend Frauen und Kinder aus der Ukraine, und drei Mitarbeiter der Einrichtung so eben unverletzt einem Brandanschlag entkommen, der die Unterkunft in Schutt und Asche legte. Der Firnis der Zivilisation ist, leider, auch hierzulande bedenklich dünn. Fremdenhass, Rassismus, Empathielosigkeit, Gewalt kennzeichnen den rechten Rand der Gesellschaft. Seit langem. Rostock-Lichtenhagen, Solingen, Hanau, der Mord an Walter Lübcke in Kassel, die Mordtaten des NSU und viele andere Attentate und Gewalttaten stehen für rechtsextremistische Mühen, die Demokratie in Deutschland zu beseitigen. Die Demokratie in Deutschland, ihre Errungenschaften, auch die Zivilgesellschaft, Menschen und Gruppen, die für das Gemeinwohl eintreten, müssen geschützt werden, kämpferisch, wenn‘s sein muß, gemeinsam, über alle ideologischen, parteipolitischen oder religiösen Unterschiede hinweg. Nur so kann auch die Einheit der Ukraine und ihr Bestand als souveräner Staat in der Mitte Europas gewahrt werden, wenn nämlich die europäischen Staaten gemeinsam den Menschen in der Ukraine beistehen, das Land finanziell und auch mit Waffen unterstützen. Dem nationalistisch-imperialen Aggressor Rußland, dem Land, das nach innen und außen alle zivilen und demokratischen Erwägungen und Regeln bricht, und seinen Vasallen auf der ganz rechten wie auch teils auf der linken Seite des politischen Spektrums hierzulande müssen die Zivilgesellschaften Europas entschieden entgegentreten. Wer Flüchtlingsheime anzündet, ist keinen Deut anders oder besser als der, der die Menschen aus ihrer Heimat in die Flüchtlingsunterkünfte Europas bombt.