“Der seit Jahren vor sich hin wuchernde Rassismus”

Die nächtlichen Exzesse der Gewalt und des Hasses, die Frankreich in Atem halten, sind zwar keine besondere Überraschung, aber ihre Wucht ist schon atemberaubend. Erfahrene Reporter, die an allen Krisengebieten der Welt herumgesprungen sind, bekamen es in Nanterre, Cité Pablo Picasso, mit der Angst zu tun. Luc Bronner von Le Monde ist so einer: Er beschreibt detailliert, wie die Opponenten der Polizei sich organisieren und bewaffnen. Einmal wackelt eine alte, sehbehinderte Frau ins Getümmel und eine Polizistin möchte ihr helfen, auch Haus zu kommen. Die alte Dame muss ablehnen: Sie wohnt mitten in der Cité und die Polizistin kann da nicht hin. Die Schreihälse auf der Rechten überbieten sich in rassistischen Parolen, auf der Linken sieht man die gesamte französische Polizei auf dem Prüfstand. Das Klima ist völlig vergiftet: Eine Quelle dafür ist der seit Jahren vor sich hin wuchernde Rassismus, der sich bis tief in die Mitte der Gesellschaft zieht. Immer noch darf etwa auf Twitter der brandgefährliche Hetzer Renaud Camus seine Sprüche vom großen Bevölkerungsaustausch klopfen. Und leider wird seine Perspektive nicht massiv zurückgewiesen, sondern aufgegriffen. Die Zeiten der großen Anti-Rassismusbewegung “Touche pas à mon pote” – Rühr meinen Kumpel nicht an sind vorbei. Menschen mit einer anderen Hautfarbe werden als Vorboten einer kommenden Invasion gesehen – ganz gleich, ob es sich um brasilianische Choreografen handelt, amerikanische Touristen oder Menschen aus dem Maghreb. In Deutschland ist AfD-Autor Götz Kubitschek der Verleger von Renaud Camus. In Frankreich ist er durchaus persona grata. Michel Houellebecq und Alain Finkielkraut zitieren ihn in freundlicher Nuancierung, der Schriftsteller Emmanuel Carrère äußert sich wohlwollend abwägend. Im Alltag ist Frankreich eine multikulturelle Gesellschaft, aber in den Talkshows und politischen Debatten tobt der Rassenkampf. Die Randalierer, die auch die Bildungseinrichtungen in den Banlieues zerstören, die Stadtbüchereien, in denen ihren Nachbarn am Nachmittag für die Abiturprüfungen lernen möchten, reagieren auf die Sicht eines Renaud Camus: Wir werden eh niemals dazu gehören. So wird ein politisches Drama inszeniert, in dem alle ihre Rollen spielen: Ein Polizist ist die Polizei und Agent der gewalttätigen Rechten. Ein Jugendlicher aus der Banlieue ist die Banlieue selbst und alle Probleme der Republik. Pragmatische Reformen der Polizeiausbildung und zur Entschärfung sozialer Brennpunkte wären die beste Lösung – aber die Symbolik der Situation und das politische Drama üben eine stärkere Anziehungskraft aus. Die Fußballnationalmannschaft musste nun zur Ruhe mahnen, eine politische Partei, die in den Vorstädten Respekt genießt, gibt es nicht. Macron zweite Amtszeit ist sehr kompliziert, von Pannen geplagt. Er hat diese schweren Probleme nicht alle verursacht, aber auch nicht entschärft und sie spitzen sich nun zu.

Nils Minkmar, Der Siebte Tag: Der Zufall,

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