Monat: Oktober 2024
„Das Jammern wird gefährlich“
Deutschlands größtes Problem ist heute seine Depression. Die Stimmung ist dabei deutlich schlechter als die Lage. Der Pessimismus droht Politik und Wirtschaft zu lähmen und die Krise herbeizuführen, die man verhindern will. (…)
Was jedoch grundsätzlich fehlt, ist Verantwortungsbewusstsein – zu viele in Deutschland weigern sich, Verantwortung zu übernehmen, und suchen stattdessen die Schuld bei anderen. Wir brauchen einen Kennedy-Moment: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst. Nur so kann Deutschland aus dem Teufelskreis von Pessimismus und Paralyse ausbrechen.
Die Menschen sind zutiefst unzufrieden mit Politik und Gesellschaft, und die Zukunftsängste sind größer denn je. (…) Zugleich zeigt der Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung einen Widerspruch: In den letzten 20 Jahren war die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrem eigenen Leben nie so hoch wie heute, während die Zufriedenheit mit Gesellschaft und Politik gleichzeitig nie so niedrig war. Zu keiner Zeit waren mehr Menschen in Arbeit, die realen Löhne steigen erheblich. Viele Unternehmen machen hohe Gewinne und suchen eher zusätzliche Arbeitskräfte, statt um ihre Existenz zu fürchten oder Arbeitsplätze abzubauen. Dennoch ist die Stimmung in den Unternehmen schlecht, und mit Blick auf die Zukunft wächst der Pessimismus. (…)
Unternehmen und Lobbyverbände schieben die Verantwortung für bessere Rahmenbedingungen fast ausschließlich der Politik zu. Diese soll Bürokratie und Regulierung abbauen, Steuern senken, Infrastruktur verbessern, günstigere Energie bereitstellen und mehr Subventionen gewähren. Doch ein Großteil der Verantwortung für die schwierige Lage der Industrie liegt bei den Unternehmen selbst. Insbesondere die Automobilbranche leidet unter dem Dieselskandal, dem versäumten Umstieg auf E-Mobilität und der starken Abhängigkeit von China mehr als unter den vermeintlich zu hohen Energiekosten oder übermäßiger Regulierung.
Auch in der Politik wird Verantwortung gerne auf andere abgeschoben. Die Ampelparteien geben sich gegenseitig die Schuld für fehlende Reformen und den ständigen Streit innerhalb der Koalition, anstatt Verantwortung für die Regierung zu übernehmen. Die Union kritisiert die Bundesregierung für fast jedes Problem im Land, obwohl sie nach 16 Jahren unter einer CDU-Kanzlerin für viele Probleme verantwortlich ist und auch heute im Bundesrat und im Bundestag maßgeblich an Entscheidungen beteiligt ist. (…)
Es sind vor allem die verletzlichen Gruppen, die als Sündenbock herhalten müssen. Wer Bürgergeld empfängt, sei faul und könne eigentlich arbeiten, erhalte zu viel Geld. Die Regelsätze sollten gekürzt werden. Viele Deutsche halten Migration für das größte Problem der Gesellschaft, glauben, dass durch die Kosten der Migration zu wenig Geld für ihre eigenen Bedürfnisse bleibt. Diese Behauptungen sind unsinnig und falsch.
Marcel Fratzscher, Fratzschers Verteilungsfragen, in: Die Wirtschaftskolumne von ZEIT ONLINE
Der treibende Brummlaut des Markus Lanz
Im Gespräch mit den Korrespondentinnen und Korrespondenten fällt heute besonders stark eine Moderationstechnik auf, die Lanz in den vorangegangenen 1999 Sendungen perfektioniert hat: der treibende Brummlaut.
Spricht die Gesprächspartnerin oder der Gesprächspartner, macht Lanz im Schnitt alle zehn Sekunden motivierend „Mmh“ oder „Mhm“. Allein in dieser zweitausendsten Sendung bringt Lanz es auf sage und schreibe (der Zuschauer hat Strichliste geführt) 303 treibende Brummlaute. Hochgerechnet auf alle Sendungen sind das unglaubliche 600 000 zustimmende Brummlaute, die den Redeflow des Gegenübers im Gang gehalten, das konzentrierte Zuhören des Moderators unterstrichen, den Zuschauer in den Wahnsinn getrieben haben. Aber nicht so sehr, dass er abschalten würde, weil diese Eigenart mindestens so sympathisch wie nervig ist.
„Mhm.“ – „Ja.“ – „Interessant.“ – „So.“ – „Ja.“ – „Das ist genau mein Punkt!“ – „Genau.“
Hören wir mal rein in den unvergleichlichen Lanz-zuhör-Sound. Eine Collage des Abends, ein Destillat des anfeuernden Ganz-Ohr-Seins, angereichert mit den ebenfalls stilbildenden Einzelwortwiederholungen und Nebenbei-Einwürfen des am äußersten Sesselrand sein Kinn befühlenden Moderators.
„Mhm.“ – „Ja.“ – „Interessant.“ – „So.“ – „Ja.“ – „Das ist genau mein Punkt!“ – „Genau.“ – „Mit der Bitte um kurze Antwort.“ – „Mhm!“ – „Mmh.“ – „Mhm.“ – „Ja.“ – räuspert sich – „Hm-hm-hmm!“ – „4000 Kilometer, glaube ich.“ – „Mmh.“ – „Mhm.“ – „Ja!“ – „Halbleiter.“ – „Den gibt es nicht! Ja! Ja!“ – „Mhm.“ – „Mh.“ – „Äquidistanz.“ – „So!“ – „Amerika.“ – „Brasilien.“ – „Der sogenannte globale Süden.“ – „Mmh.“ – „In der Tat.“ – „Schönen guten Abend nach Nairobi. Was ist der Grund des Erfolgs der Chinesen in Afrika?“ – „Mhm. – „Mhmhm.“ – „Okay!“ – „Hahaha!“ – „Mmh.“ – „Was geht da vor sich?“ – „Mmh.“ – „Die chinesische App Tiktok.“ – „Was heißt das genau?“
Bernhard Heckler, Der Talk-Monolith. 2000. Sendung Markus Lanz, in: Süddeutsche Zeitung vom vierundzwanzigsten Oktober Zweitausendvierundzwanzig
Politik und ihr Tribut
Ein Pro und Contra ist in der Süddeutschen Zeitung von Samstag zu lesen. Ist der Job des Politikers überhaupt noch zu bewältigen? Anlass sind die Rücktritte von Kevin Kühnert vom Amt des SPD-Generalsekretärs und Ricarda Lang von dem der Sprecherin des Vorstandes von Bündnis 90/ Die Grünen.
Vivienne Timmler übernimmt das Pro. Der Job der Politikers sei hart – und doch ein Privileg. In keinem anderen Beruf wäre es möglich, die Zukunft des Landes in diesem Maße mitzugestalten, sich für die eigenen Werte und Überzeugungen so effektiv einzusetzen. Das Parlament, und man mag hinzufügen, das Land und seine Bürgerinnen ebenfalls, brauchen Politiker, „die menschlich, nahbar und glaubwürdig sind, mehr denn je. Leute, die sich trauen, Fehler zu machen, Schwächen zuzugeben und nicht für alles sofort die beste Lösung parat zu haben. Es wäre die richtige Antwort auf den Vertrauensverlust in politische Institutionen und die Entfremdung, die zwischen der Politik und den Wählern stattgefunden hat.
Was es dafür jedoch auch benötigt: Parteien, in denen die von der Mehrheit abweichende Meinung wieder als Gewinn gesehen wird. Politische Umfelder, die all jene, die im Feuer stehen, besser schützen, teils auch vor sich selbst. Demokratische Wettbewerber, die aufhören, Hass-Narrative noch zu befeuern. Und nicht zuletzt eine Gesellschaft, die es wieder lernt, den Menschen hinter dem Politiker zu sehen. Denn am Ende macht dieser Mensch den Job nicht für sich selbst. Sondern für das Volk.“
Constanze von Bullion bezeichnet in ihrem Contra-Kommentar die Politik als „Lebendfalle“. Natürlich seien Politiker privilegiert. Jede Spitzenposition fordere ihren Tribut, in der Politik wie in Wirtschaft oder Gesellschaft. „Die politische Bühne allerdings ist von besonderer Erbarmungslosigkeit.“
„Unzumutbar ist die Gehässigkeit, mit der in sozialen Medien jeder noch so kleine Versprecher, jeder Stolperer in einer Talkshow und jede spontane, unfrisierte Formulierung aufgespießt wird, bevor das digitale Anspucken folgt – bei Ricarda Lang reichte schon die nicht normgerechte Figur, um einer beispiellosen Hatz ausgesetzt zu sein, über Jahre.“
„Wer hat noch Lust auf solche Jobs? Wer steht sie durch? Und wer würde tauschen? So gut wie keiner dieser Schreihälse, die täglich Häme über Politiker ausschütten. (…) Der Hohn über den Elfenbeinturm, in dem die politische Kaste es sich gemütlich gemacht hat auf Steuerzahlers Kosten, bevor sie sich abends durch die Talkshows schwatzt, ist wohlfeil. Das Gegenteil ist der Fall. Politik ist ein so hartes Geschäft, dass Leute, die man dort besonders dringend bräuchte, es als Berufsfeld oft gar nicht erst in Betracht ziehen.
In Parlamenten fehlen Nicht-Studierte in großer Zahl, Frauen sowieso, aber auch Menschen, die etwas anderes beherrschen als Jura, also die Kunst rechtlicher Akkuratesse. Politik wirkt abschreckend auf Nachdenkliche und Kreative, die sich nicht ins Korsett normierten Sprechens und Denkens fügen. (…) Es ist also kein Zufall, dass sich mit Ricarda Lang und Kevin Kühnert ausgerechnet zwei der vielversprechenden, weil unkonventionellen Persönlichkeiten aus der ersten Reihe verabschieden. Sie kann zur persönlichen Hölle werden, gerade für Menschen, die zu eigenem Gedankengut neigen.”
Neue Höflichkeit
Alte weiße Männer, zu denen auch Frauen gehören können, auch junge, sind Menschen, die nicht merken oder nicht merken wollen, dass sich Teile der Gesellschaft weiter entwickeln. Andere entwickeln sich zurück, dort gilt „woke“ als Schimpfwort und Wokeismus als etwas, was unbedingt bekämpft werden muss.
Aber in Wahrheit handelt es sich bei einem vernünftig verstandenen Wokeismus um eine gesteigerte Sensibilität gegenüber Diskriminierungen aller Art. Um eine neue Höflichkeit. Um Rücksichtnahme und den Willen, niemand zu verletzen.
Es geht um die Etablierung einer demokratischen Zivilgesellschaft, in der man wieder lernt, erst einmal nur zuzuhören, dazuzulernen, Respekt zu zeigen, bevor man mit Wortgranaten wie Erziehungsdiktatur und Gender-Gaga losballert.
(…) kann ich das Gelaber von heute über den bösen Wokeismus und die Erziehungsdiktatur nicht mehr ertragen. Dass Menschen, die gendern oder “Schwarze” oder “People of Color” sagen, statt das N- oder M-Wort zu benutzen, sich für was Besseres halten und andere bevormunden und erziehen wollen, dieses ganze anti-woke Wutgeschnaube von ganz rechts bis zur politischen Mitte – das alles hängt mir zum Hals heraus und langweilt mich tödlich.Christian Nürnberger auf Facebook
Jemand
«Jeder ist jemand.»
Ein Satz, ein Sätzchen des Schriftstellers George Tabori, dem eine Wucht innewohnt, eine Kraft, die ganze Menschlichkeit. Wir alle sind Menschen, jemand, gleich, was wir fühlen, glauben, denken, gleich, wie wir aussehen, was wir können oder nicht können. Jemand. Jemand gehört zu uns, ist Teil von uns. Er mag fremd sein, aber er ist zugehörig. Teil des WIR.
Querulatorische Paranoia
Der Rechtsruck ist „kein Ruck mehr, sondern eine mittlerweile jahrzehntelange Verschiebung sämtlicher Grundprinzipien“, formulierte der Dramatiker Thomas Köck in seiner jüngst erschienenen „Chronik der laufenden Entgleisungen“. Es gibt keinen Rechtsruck, „es gibt einen Rechtserdrutsch, gesellschaftlich, der längst in vollem Gange ist“.
Dessen Boden wird genährt, lange schon, fürsorglich und hingebungsvoll. Durch jedes Wort der gezielten Bösartigkeit, was man salopp und leichtfertig die „rechten Provokationen“ nennt. Jede dieser Bösartigkeiten führte Tropfen für Tropfen mehr an Gefühlsrohheit hinzu. Man gewöhnte sich an sie. Noch die Empörung darüber besorgte ihr Geschäft, die Rohheit bleibt im Gespräch, kommt immer mehr ins Gespräch, die einen kritisierten sie, die anderen verteidigten sie, dann wirkt sie erst als eine mögliche Meinung, die man haben kann, dann nach und nach als eine unter den Gängigen. Empört man sich, spielt man ihnen schon in die Hände, und tut, was sie erhoffen, generiert Aufmerksamkeit. Bekämpft man sie „inhaltlich“, läuft man ihren „Inhalten“ hinterher. Was immer man tut, die Gefühlsrohheit leckt sich die Finger. Wenn sich alles um sie dreht, schraubt sie sich immer mehr in unsere Welt hinein.
(…) Die schlechten Manieren, die Gewaltsprache, die obszöne Redeweise, sie gelten als Ausweis der Unangepasstheit und der Aufrichtigkeit (Kickl sagt gern, man werde den Gegnern „einen Schlag aufs Hosentürl“ versetzen). Der Agitator muss sein Publikum im Bewusstsein stärken, hilfloses Objekt „einer permanenten Verschwörung“ zu sein.
(…) Tatsächlich hat sich eine Art „globaler Stil“ des Ethno-Nationalismus herausgebildet.
In jüngerer Zeit hat die französische Philosophin und Psychoanalytikern Cynthia Fleury von Milieus voller Bitterniss geschrieben. Sie spricht von einer „querulatorischen Paranoia“, einer „Vergiftung“, einer „Selbstvergiftung“ der Subjekte, die an realen, echten sozialen Problemen andockt, aber ins Maßlose eskaliert. Das „in das Ressentiment verliebte Subjekt“, erleidet einen „Verlust der Urteilsfähigkeit“. Fleury: „Eine Person, die diese Störung hat, gibt ihre Fehler nie zu, ist aggressiv und provoziert andere, hat unbeherrschte Wutausbrüche, ist pathologisch unaufrichtig, überempfindlich.“
(…) Der harte Kern dieser Wählerschaft wünscht sich genau das, was er bekommt.
Robert Misik, Aufbrausend, aggressiv, paranoid, in: Newsletter Vernunft und Extase
Eins Neununundsiebzig
„Bring Butter mit, wenn sie unter Eins Neununundsiebzig kostet.“ Laut schallte vor vielen Jahren, Jahrzehnten die Stimme der Gattin eines Kollegen durchs große Büro im Institut, in dem ich knapp zehn Jahre lang arbeiten durfte, so daß alle vom familiären Arbeitsauftrag erfuhren und der Präzision der entscheidenden Bedingung für den Arbeitseinsatz: Einsneununundsiebzig. Mark. D-Mark. Heute wären das Nullkommazweiundneunzig Euro. Für den immer noch handelsüblichen Zweihundertfünfzig-Gramm-Riegel. Seit ein paar Tagen, so ist zu lesen, hat Butter einen Rekordpreis erreicht: zwei Euro neununddreißig. Gut zweieinhalb mal so teuer wie in den glücklichen Tagen seinerzeit, als Ehemänner mit erfüllbaren Arbeitsaufträgen in die Welt der Supermärkte und Tante-Emma-Läden entlassen wurden.
Zwei Euro neununddreißig. „Das ist der höchste Preis, den es in Deutschland jemals gegeben hat“, sagte die Bereichsleiterin Milchwirtschaft der Agrarmarkt Informations-Gesellschaft (AMI) in Bonn, Kerstin Keunecke.
Butter kostet damit zehn Cent mehr als im Sommer Zweiundzwanzig, als der bisherige Höchstwert erreicht worden war. Marken wie Kerrygold, Meggle oder Weihenstephan liegen inzwischen bei dreuneununddreißig bis dreineunundvierzig Euro pro zweihundertfünfzig Gramm.
Bedingt durch Ukrainekrieg und Energiekrise war Butter bereits im Laufe des Jahres 2022 immer teurer geworden. Der Preis für ein Päckchen der Eigenmarken stieg auf das Allzeithoch von 2,29 Euro, im Sommer 2023 fiel er auf 1,39 Euro. Anschließend ging er erneut in die Höhe. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zahlten Verbraucher im August 2024 für Butter 41 Prozent mehr als 2020.