Kategorie: Geschichte

Todestal der Vergangenheit

Der israelische Staatspräsident Shimon Peres verstarb am achtundzwanzigsten September Zweitausendundsechzehn im Alter von dreiundneunzig Jahren. Am siebenundzwanzigsten Januar Zweitausendundzehn sprach er anläßlich der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag. Man sei sich in Deutschland wie in Israel “der Finsternis, die im Todestal der Vergangenheit herrschte”, bewusst – auch angesichts der “gemeinsamen, klaren Entscheidung, unseren Blick nach vorne zu richten – zum Horizont der Hoffnung und in eine bessere Welt”.

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Putsch, Streich, Coup

Von einem Militärputsch ist meist nicht die Rede, wenn der Verschwörung zum militärischen Widerstand und des Umsturzversuches des zwanzigsten Juli gedacht wird. Jenes gescheiterten Attentats von Claus Schenk Graf von Stauffenberg und anderen Militärs sowie einigen wenigen Zivilpersonen auf den gewählten Kanzler Hitler, heute vor zweiundsiebzig Jahren. Und doch war es eben dies, ein Militärputsch, ein Staatsstreich, ein Coup d’État. Das machen auch die Worte von Stauffenberg deutlich: „Es ist Zeit, daß jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muß sich bewußt sein, daß er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterläßt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem Gewissen.“ Die Verschwörer, überwiegend Berufssoldaten, meist aristokratischer Herkunft und konservativer Gesinnung, zahlten mit ihrem Leben, Familien und Verwandte wurden geächtet, verfolgt, inhaftiert. Erst nach und nach machten Argwohn und Distanz den Attentätern gegenüber im sich entwickelnden Nachkriegsdeutschland Platz für Respekt und Bewunderung für die Widerständler, für den Mut, für ihre Überzeugungen ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Ein gescheiterter Militärputsch spielt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland also eine erhebliche Rolle für die Identifikation der Bürger mit dem Land und seiner Geschichte. Der Widerstand, der Kampf gegen die Tyrannei, gleich ob von Sozialdemokraten und Kommunisten, von Christen oder Berufssoldaten, von Juden oder Studenten getragen, von Einzelgängern oder Kriegsgefangenen, von Kaufleuten oder Künstlern, der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der Mut Einzelner und der von Gruppen, aktiv gegen das faschistische Regime zu kämpfen, trug die Kraft der Versöhnung mit der Geschichte in sich. Heute sind sich die Beobachter einig: Der versuchte Militärputsch in der Türkei war ein Akt gegen eine gewählte Regierung. Und mithin undemokratisch. Aber auf den Militärputsch folgte der Staatsstreich. Durch die gewählte Regierung. Wenn Soldaten, Richter, Staatsanwälte, Beamte, Lehrer, Professoren oder Journalisten ohne ein Gesetz, ohne einen Richterspruch inhaftiert und kujoniert werden, entlassen, wenn Journalisten, Verlage, Zeitungen und Rundfunkanstalten an wahrheitsgetreuer Information gehindert, Sendelizenzen aufgehoben, Redaktionsräume zugesperrt werden, das alles ohne Gesetz und Gerichtsverfahren, dann ist das nicht weniger und mehr als ein Staatsstreich nach dem und unter dem Vorwand des Militärputsch(es).  Mitunter wird ein feinsinniger Unterschied darin gesehen, daß bei einem Putsch, vor allem einem Militärputsch der gewaltsame Sturz der Regierung von außen versucht wird, während an einem Staatsstreich einige oder mehrere Mitglieder der aktuellen Regierung beteiligt sind. Im konkreten Fall ein Präsident und ein Ministerpräsident. Ein feinsinniger Unterschied.

Jupp

Josefstag ist heute. Ja, der Josef wird heute gefeiert. Der Bräutigam der Gottesmutter. In Bayern heißt der Tag Josefi, in der Schweiz Seppitag und in Österreich wird er mitunter Josephinentag genannt. Josef gilt wegen seines Berufes als Zimmermann als Patron der Arbeiter und Handwerker, vor allem, klar, der Zimmerleute und Schreiner. Und, natürlich, auch als Saint-Joseph-Atzwang-detailSchutzpatron der jungfräulichen Menschen und der Ehe. In der katholischen Kirche begeht man als Replik auf die Arbeiterbewegung am Ersten Mai das Fest Josef der Arbeiter, mit dem der heilige Josef geehrt und die Würde der menschlichen Arbeit verdeutlicht werden soll. Der Josefstag lebt auch in Bauernregeln fort, von denen eine lautet: „Ein schöner Josefstag ein gutes Jahr verheißen mag.“ Tja. Was immer das heute bedeuten mag, hier jedenfalls, in diesen Breiten. Wir halten uns besser an eine andere Regel, selbst wenn sie holpert, daß es kracht: „Wenn’s erst einmal Josefi ist, so endet auch der Winter gewiss.“

Statue des heiligen Josef in der St.-Josefs-Kirche in Atzwang, Tirol, 
© Wolfgang Moroder

Geht unter die Menschen und sagt, es ist Zeit.

„Es ist nichts verborgen, was nicht sichtbar werden wird. Wenn ihr nur die liebt, die Euch lieben, was tut Ihr da Besonderes? Nein, tut Gutes allen. Gebt, ohne etwas zurückzuhoffen.“ Wenn Rolle und Mime zusammenfallen und das Publikum aus der Rolle fällt, wenn der Mime ausfallend wird und das Publikum nicht hören und sehen will, sondern reden und stören und eine, seine Rolle spielen, dann ist die Zeitmaschine im Jahre Neunzehnhunderteinundsiebzig gelandet am zwanzigsten November in München. Bei Klaus Kinski. Bei Jesus Christus Erlöser. Gesucht wird Jesus Christus. Wenn Kinski zu Jesus wird, werden will, aber pöbelt, grob und hilflos, und das Publikum die Pharisäer gibt und ebenfalls pöbelt, in revolutionärer Vermummung, bleibt Kinskis Bitte. Oder doch Jesus’ Flehen? „Mein Gott, verlaß mich nicht.“ Eifer und Langmut und Geduld werden belohnt. Wenn man bis zum Ende durchhält. Klaus Kinski und sein Jesus, das ist mehr als nur eine Zeitreise. Sie sind auch eine Offenbarung.

https://youtu.be/_CzQi40MKbc

Wermelskirchen unterm Hakenkreuz: Ein Friedhofsspaziergang

Am kommenden Sonntag, dem einunddreißigsten Januar, führt der Stadtspaziergang unter Leitung des Journalisten und Stadthistorikers Armin Himmelrath über den Stadtfriedhof zu Gräbern von Personen, die während der Zeit des Nationalsozialismus wichtig waren. Die Runde führt vorbei an den Ruhestätten von Opfern und Tätern, von Mitläufern und Menschen, die Widerstand geleistet haben. Gräber von Persönlichkeiten aus dieser Zeit erzählen vom Leben dieser Menschen. Anlaß für diesen Stadtspaziergang ist der nationale Gedenktag zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Die Stadtspaziergänger treffen sich am kommenden Sonntag am Haupteingang des Stadtfriedhofs um halb Zwölf an der Berliner Straße. Armin Himmelrath ist Vorstandsmitglied des Vereins Bergische Zeitgeschichte. Ausrichter des Stadtspaziergangs ist die Volkshochschule Bergisch Land.

“Wir schaffen das”

Ruth Klüger ist österreichisch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin und hielt am siebenundzwanzigsten Januar Zweitausendsechzehn in der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag eine Rede, die ihre Erlebnisse als Zwangsarbeiterin im Konzentrationslager behandelte. Am Ende der Rede lobte sie die Öffnung der deutschen Grenzen in der Flüchtlingskrise und bezeichnete Angela Merkels Satz Wir schaffen das als „heroisch“.

Ruth Klüger: ZWANGSARBEITERINNEN

Der Winter von 1944/45 war der kälteste Winter meines Lebens und blieb sicher unvergesslich für alle, die ihn damals in Europa erlebten. Ich bin jetzt 84 Jahre alt und hatte zwar noch nicht viele Winter hinter mir, ich war gerade erst 13 Jahre alt geworden, aber auch die vielen anderen, die noch folgen sollten, waren für mich nie wieder so kalt wie dieser letzte Kriegswinter. Kälte, der man hilflos ausgesetzt ist, bleibt für mich auf immer verbunden mit Zwangsarbeit im Frauenlager Christianstadt, ein Auβenlager des KZs Groβrosen in Niederschlesien, wie es damals hieβ. Heute liegt der Ort in Polen.

Bei Zwangsarbeitern denkt man an erwachsene Männer, nicht an unterernährte kleine Mädchen. Aber ich war keineswegs bemitleidenswert, im Gegenteil, ich hatte groβes Glück gehabt und war stolz darauf. Denn es war mir gelungen, mich im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im Sommer 1944 — das war eine Saison, in der die Gaskammern und Kamine im Lager auf Hochbetrieb liefen–, mich in eine Selektion einzuschmuggeln, die arbeitsfähige Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren zum Kriegsdienst auswählte. Da hatte ich mich in eine Warteschlange gestellt, und auf die Frage des amtierenden SS-Manns mein Alter, damals noch zwölf Jahre, als fünfzehn angegeben, eine sehr unwahrscheinliche Lüge, denn ich war nach fast zwei Jahren Theresienstadt unterernährt und unentwickelt. Die Lüge war mir von einer freundlichen Schreiberin, ein Häftling wie ich, zwei Minuten früher eingeflüstert worden und ich hatte sie tapfer wiederholt. Der SS-Mann betrachtete mich und meinte, ich sei aber sehr klein. Die Schreiberin behauptete kühn, ich hätte starke Beine, “Sehen Sie doch nur, die kann arbeiten”; er zuckte die Achseln und lieβ es gelten. Einem Zufall von wenigen Minuten und einer gütigen jungen Frau, die ich nur einmal im Leben gesehen habe, verdankte und verdanke ich mein Weiterleben, denn der Rest des Transports von Theresienstadt, mit dem ich gekommen war, wurde in den nächsten Tagen vergast. Wir Ausgewählten wurden in Waggone verfrachtet und ins Arbeitslager verschickt.
Die ersten Tage in Christianstadt waren für mich der Inbegriff von Erleichterung, um nicht zu sagen Glück. Es war warm, es gab Gras und Bäume im Wald, die Luft war klar, eine Wohltat nach dem kadaverartigen Dunst, der in Auschwitz, von den Kaminen ausgehend, über dem Lager hing. Vor allem war die erdrückende Todesangst vorbei.
Die positiven Gefühle dauerten nicht lange. Es wurde nass, dann sehr kalt. Wir wurden morgens durch eine Sirene oder Pfeife geweckt und standen im Dunkel Appell. Stehen, enfach stehen, ist mir noch heute so widerlich, dass ich manchmal aus einer Schlange ausscheide und weggehe, wenn ich schon fast dran bin, einfach weil ich keinen Augenblick länger in einer Reihe bleiben möchte. Wir bekamen eine schwarze, kaffeeartige Brühe zu trinken, eine Portion Brot zum Mitnehmen und marschierten in Dreierreihen zur Arbeit. Neben uns lief eine Aufseherin, die uns mit ihrer Pfeife im Gleichschritt halten wollte. Alles Pfeifen nützte nichts, den Gleichschritt haben wir trotz des Ärgers der Aufseherinnen nicht gelernt. Es freute mich in meinem kindlichen vorfeministischen Widerstandstrotz, dass man jüdische Hausfrauen nicht veranlassen konnte, im Schritt zu gehen. Wir waren nicht aufs Marschieren gedrillt worden. Männer konnte man leichter dazu trainieren.
Die Arbeit war Männerarbeit, wir haben den Wald gerodet, die Stümpfe schon gefällter Bäume ausgegraben und weggebracht; auch Holz gehackt und Schienen getragen. Da sollte wohl etwas gebaut werden, was es war, wurde uns natürlich nicht gesagt und hat mich auch nicht interessiert. Es liegt im Wesen der Zwangsarbeit, dass die Arbeiter den Sinn ihrer Arbeit entweder nicht kennen oder ihn verabscheuen. Marx hätte seine Freude, und hoffentlich auch sein Entsetzen, an dieser Probe aufs Exempel gehabt Einer körperlichen Arbeit, die etwas Auferlegtes, Nichtgewähltes ist, stellt sich die Lethargie als Defensivmechanismus entgegen. Ich habe damals soviel Sabotage wie möglich getrieben, indem ich mir auswendig gelernte Gedichte aufsagte, aus Schwäche, aus Langweile, aber auch aus Überzeugung. Was immer in Christianstadt entstehen sollte, es kam nicht rechtzeitig zustande.

Manchmal hat man einige von uns an die Zivilbevölkerung ausgeliehen, dann saβen wir auf Dachböden und haben zum Beispiel Zwiebel zum Aufhängen auf Schnüre gereiht. Das war besser als im Freien arbeiten, nicht so anstrengend und vor allem weniger kalt. Die Dorfbewohner haben uns angestarrt, als seien wir Wilde. Wenn ihnen damals ein Licht aufging, was es mit den zerlumpten Häftlingen im benachbarten Arbeitslager auf sich hatte, so haben sie’s nach Kriegsende verdrängt, denn da wollte niemand gewusst haben, was in den Lagern vor sich ging, noch weniger, dass man im Dorf gelegentlich davon profitiert hatte.
Manchmal mussten ich und meine Freundin Susi, eine Sechzehnjährige, in den Steinbruch, den ältesten Arbeitsplatz in Groβ-Rosen, um dessentwillen dieses KZ dort überhaupt errichtet worden war. Im Steinbruch war es zum Verrecken kalt. Wir klammerten uns aneinander, aber das nützte nicht viel. Man konnte sich so gar nicht gegen die Kälte schützen, unsere Kleidung war viel zu dünn, an den Füβen hatten wir Zeitungspapier, das half, aber nicht genug. und wir hatten vereiterte Wunden an den Beinen, denn es heilte alles so schlecht. Wir sehnten uns nach der nächsten Pause, Mittagspause, dann Feierabend. Zweifel der an Verzweiflung grenzt: wie lange halte ich das noch aus? Hoffnung: morgen zum Lagerdienst im Lager bleiben zu dürfen, um dort sauber zu machen. Aber das war ein seltenes Privileg.
Etwa zwölf Jahre später schaue ich Susi, die meine lebenslange Wahlschwester wurde,in Kalifornien zu, wie sie mit ihren zwei kleinen Kindern im warmen Sand spielt. Die beschwichtigende, überlegene Stimme, ‘mach dies oder jenes’. Plötzlich sehe ich uns wie damals, wir hocken beieinander im Steinbruch in der Kälte. Susi legt einen Arm um mich, ich wende mich weg, denn der Sand erstarrt zu schlesischem Granit, und das Kinderspiel ist düster geworden. Vom Steinbruch träum ich noch manchmal. Es ist ganz öde, ich möchte mich irgendwo wärmen, aber wo denn?
Über diese traumhafte und gestaltlose Öde habe ich später ein Gedicht verfaβt, ein “Landschadftsgedicht”, nannte ich es. Es sind zusammenhanglose Traumbilder, Eindrücke eines Zustands, der Inbegriff des Arbeitslagers, wie ich es erlebte. Ich lese es vor:
Auf dunklem Abhang steht ein lichtes Haus.

Im Steinbruch frieren Kinder. Eines hascht
nach einer Eidechse, die ihm entwischt.

Ein Gesichtsloser
sucht sich zum Graben hinunterzuwälzen.

Das Mädchen,
die tuchbedeckte Schüssel krampfhaft haltend,
läuft schluchzend ins lichte Haus.

Im Steinbruch frieren Kinder in der rostigen Luft.
Unter eisernen Bäumen bücken sich wortlose Paare
und sammeln metallene Frucht.

Die Mehrzahl der Frauen, darunter auch meine Mutter, arbeiteten in einer Munitionsfabrik, zusammen mit verschleppten Franzosen, Männern, die besser ernährt wurden als wir, weil sie für diese Arbeit besser ausgebildet und daher wertvoller waren. Dafür konnten sie auch besser Sabotage treiben. Wenn sie grinsend zu den Frauen geschlendert kamen mit den Worten: “Plus de travail, les filles”, so konnte man sich darauf verlassen, dass sie eine Maschine stillgelegt hatten, indem sie die richtigen Schrauben lockerten oder sonstwas Unauffälliges anstellten, das die Deutschen erst finden und richten muβten. Sklaven- oder Zwangsarbeit hat ihre Tücken, und für die Nazis ist wohl oft weniger dabei herausgesprungen als sie ursprünglich am Reiβbrett errechneten. Leider immer noch zuviel.
Genau gesehen ist Zwangsarbeit insofern schlimmer als Sklavenarbeit, weil der leibeigene Sklave einen Geldwert für seinen Besitzer hat, den dieser verliert, wenn er den Sklaven verhungern oder erfrieren läβt. Die Zwangsarbeiter der Nazis waren wertlos, die Ausbeuter konnten sich immer noch neue verschaffen. Sie hatten ja so viel “Menschenmaterial”, wie sie es nannten, dass sie es wortwörtlich verbrennen konnten. Und erst die Frauen! Die konnten ja nicht einmal so gut arbeiten wie die Männer. Manche Männer, wie die eben erwähnten Franzosen, waren ausgebildet in Berufen die für den Kriegseinsatz brauchbar waren. Doch die Frauen? Man konnte sie ruhig bis zum Verhungern ausnützen. Fast niemand im Lager menstruierte, dazu braucht’s ein gesünderes Leben. Sie waren vor allem Hausfrauen gewesen. Das war die Generation, die nur selten Berufe ausserhalb des Haushalts ausübte. Sie waren Menschen der Mittelklasse, die Generation meiner Mutter, um die Jahrhundertwende geboren, die erzogen wurden und damit gerechnet hatten,dass die Männer in der Familie sie zeit ihres Lebens ernähren und beschützen würden. Sie hatten fast nichts zu bieten als ihre beschränkte Geschicklichkeit und die verminderte Körperkraft der Hungernden.

Ich sage “fast”, denn etwas können Frauen doch ausüben, was man als einen weiblichen Beruf bezeichnet hat, nämlich die Prostitution. In manchen Konzentrationslagern für Männer, darunter Mauthausen, das einzige KZ in meinem Geburtsland Österreich, gab es sogenannte “Sonderbaracken”, wo Frauen, hauptsächlich im Frauenlager Ravensbrück rekrutiert, gewissen KZ Insassen zur Verfügung standen. Dort, in der Sprache von Heinrich Himmlers unnachahmlich arroganter Menschenverachtung [Zitat] “sollen den fleißig arbeitenden Gefangenen Weiber in Bordellen zugeführt werden “. Ende Zitat. Der Kulturwissenschaftler Robert Sommer nennt diese Situation ganz korrekt “sexuelle Zwangsarbeit”, wobei der Nachdruck auf den Zwang fallen muss. Nach dem Krieg gab’s sofort, und gibt’s vielleicht heute noch immer, zahlreiche pornografische Bücher und Bändchen, die, oft bilderreich, vorgaben, die Prostitution im KZ darzustellen. Sie waren natürlich erfunden. Auf dieser Ebene, nämlich der einer zweifelhaften Unterhaltungsliteratur, war’s ein Geschäft und fand Leser und Abnehmer. Die Wirklichkeit war Lagerwirklichkeit und nicht so erotisch aufreizend. Die Frauen waren in ständiger Gefahr geschlechtskrank oder schwanger zu werden, durch einen serienmäβigen Geschlechtsverkehr, der je höchstens 20 Minuten dauern durfte, während draussen vor der Baracke schon eine Schlange wartender Männer stand. Das ist nicht eine “Arbeit”, die man sich freiwillig aussucht, wie den miβbrauchten Frauen nach dem Krieg manchmal zynisch vorgeworfen wurde. Die Prostituierten wurden später auch nicht als Zwangsarbeiter eingestuft, und die Überlebenden hatten keinen Anspruch auf Restitution — die sogenannte Wiedergutmachung — oder erhoben keinen solchen Anspruch. Noch weniger ihre Familien, die sich ihrer schämten. Der Respekt, den man den Überlebenden der Lager entgegenbrachte, wenn nicht immer, so doch oft, galt für sie nicht. Erst in letzter Zeit ist ihr Schicksal genauer erforscht worden. Eine solche Diskriminierung und Vertuschung geht natürlich auf uralte Vorurteile zurück, laut denen der Geschlechtsverkehr die Frau entehrt,den Mann aber stärkt. Und doch haben gerade diese gefangenen Frauen weniger für den Nazikrieg geleistet als alle anderen Zwangsarbeiter. Sie haben nur sich selbst geschadet, körperlich und seelisch. Wenn wir heute der Zwangsarbeiterinnen von damals gedenken, so müssen wir sie miteinschlieβen. (Übrigens waren weder diese “fleiβig arbeitenden” Privilegierten” noch “die Weiber” jüdischer Herkunft. Das wäre ja Rassenschande gewesen.)
Zurück zu meiner eigenen Geschichte. Beim Roden und Schienenlegen hatten wir öfters Kontakt mit deutschen Zivilisten, die auch unsere Vorarbeiter waren. Einmal saβ ich in einer Pause auf einem Baumstamm neben einem dicken, vierschrötigen Mann, der mich angesprochen haben muss, denn aus eigenem Antrieb hätte ich mich nicht neben ihn gesetzt. Er war neugierig, es war klar, dass ich nicht in die Vorstellungen passte, die man sich von Zwangsarbeitern machte. Ein dunkelhaaiges, vehungertes Sträflingskind, das aber einwandfreies Deutsch sprach, noch dazu ein Mädchen, ungeeignet für diese Arbeit, eine die in die Schule gehörte. Wie alt ich denn sei, fragte er. Ich überlegte, ob hier die Wahrheit am Platz sei. Vorsicht war geboten, denn die drei Jahre Altersunterschied, die ich mir angedichtet hatte, waren erst kürzlich meine Überlebensstrategie gewesen. Ich weiβ nicht mehr, was ich ihm antwortete, doch ich weiβ, dass ich nur eine Absicht hatte: Ich hätte ihn gern dazu gebracht, mir sein Schmalzbrot zu schenken Das war nicht nur eine Frage des Hungers, sondern, abgeleitet vom Hunger, wäre es auch eine Leistung gewesen, wenn ich eine solche Köstlichkeit, die es im Lager selbstverständlich nicht gab, mit meiner Mutter und mit Susi hätte teilen können. Ich weiss nicht mehr, wie ich mich entschied, nur dass er mir das Schmalzbrot nicht gegeben hat. Er schnitt mir zwar einen Bissen davon ab, aber den konnte ich ja nur dankbar und sofort aufessen.
Ich beantwortete also seine Fragen mit äuβerster Zurückhaltung, denn nichts lag mir ferner als mich mit einem fremden Deutschen aufs Glatteis zu begeben. Er hingegen erzählte mir, auch die deutschen Kinder gingen jetzt nicht mehr zur Schule, die würden jetzt alle eingezogen. Er fraβ mit Genuβ, während er mir vom hungernden Deutschland berichtete.
In seiner Erinnerung, stelle ich mir vor, war ich auch später, als der Krieg vorbei war, eine kleine Jüdin, der es gar nicht so schlecht ging, denn sie hat keine Schauermärchen erzählt, obwohl er ihr in seiner aufmunternden Art Gelegenheit dazu gab, ja sie geradezu aufforderte, über ihr Leben zu plaudern. Und Angst hatte sie auch keine, sonst hätte sie nicht so frisch von der Leber weg geredet. Und vielleicht benutzt er unsere Begegnung als einen Beweis, dass es den Juden im Krieg nicht schlechter ging als anderen Leuten auch.
Das nächste Mal, als ich versuchte, etwas Essbares zu ergattern,war ich noch erfolgloser. Das war kurz vor Auflösung des Lagers, als wir schon die Geschütze der Sowjetarmee hörten und die Arbeit eingestellt worden war. Es gab jetzt so wenig zu essen, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte als an Nahrung. Wenn ich meine Tagesration bekam, schlug ich die Zähne ins Brot, als müβte ich mir das ganze Stück auf einmal in den Mund stopfen. Ganz selten sah ich mich wie von auβen und schämte mich.
Eines Abends hörte ich von Susi, dass an der Hintertür der Küchenbaracke irgenewelche Abfälle verschenkt würden, die die Köchinnen ausdrücklich den Kindern geben wollten. Ich lief hin, es kamen noch ein paar andere Frauen, ich wurde ungeduldig, stieg die paar Stufen zum Barackeneingang hinauf, die anderen hinter mir, und laufe den beleuchteten Gang entlang, der zur Hintertür der Küche führte. Da öffnete sich eine Seitentür, ein langer SS-Mann kam heraus, der ruft mich, ich steh’ vor ihm, Essgeschirr in der Hand, er fragt, was ich will, ich sag’s ihm, es soll hier noch Reste zum Verteilen geben, er sagt sowas wie: “Jetzt geben Sie man acht!”, (mit unvergesslich preussischer Aussprache, für mein österreichisches Ohr), ich denke noch immer, er lässt mich passieren, denn er wird doch nicht wollen, dass man etwaige Reste wegwirft, doch nicht bei dieser Hungersnot, und da schlägt er mir schon mit voller Wucht ins Gesicht. Ich taumle nach hinten, den ganzen Gang entlang, schlage mit dem Kopf auf, die Holzpantinen fallen mir von den Füβen, das Essgeschirr aus den Händen. Susi hilft mir auf, wir gehen zurück zu unserer Baracke, auf dem Weg schimpfe ich wie ein Rohrspatz: “Es wird ihn schon noch erwischen, den Kerl, der mich geschlagen hat, früher oder später erwischt’s ihn.” — Jahrzehnte später in Göttingen höre ich einem Mann im Rentneralter zu, wie er in Schmidts Drogerie-Markt sich gegenüber einer Verkäuferin den Mund über die schmarotzenden Ausländer aus Polen zerreiβt. “Die Ausländer, die sollt’ man vergasen und die Politiker gleich dazu,” meinte er. Ich schau hin zu ihm, schätze sein Alter, ja der ist alt genug, der könnt’s gewesen sein. “Solche Sprüche,” sag ich beklommen zu ihm, wir sehen uns in die Augen, Freunderl, wir kennen uns. Da sagt er mit festem höhnischem Blick: “Ja, ja, Sie haben schon richtig gehört.”
Das Lager Christianstadt wurde Anfang 1945 aufgelöst und die Häftlinge in ein weiteres, nämlich nach Bergen-Belsen überführt. In den ersten paar Tagen ging der Transport zu Fuβ, dann wurde er in einen Zug verladen, wie ich nach dem Krieg erfuhr. Aber da waren wir nicht mehr dabei. Meine Mutter, Susi und ich sind am zweiten Abend geflohen — und haben überlebt. Aber das ist schon eine andere Geschichte.
Wenn die deutsche Zivilbevölkerung später beteuerte, sie hätte nichts über den Massenmord gewusst, so kann man sich darüber streiten, ob das stimmt, doch die massenhafte Ausbeutung durch Zwangsarbeit war sehr wohl bekannt. Viele Jahre später, als ich oft in Deutschland war und auch wieder viele Freunde hier hatte (und noch habe), stieβ ich gelegentlich auf Menschen, deren Familien Zwangsarbeiter während der Nazizeit im Hause hatten. Meine Freunde erinnerten sich an diese verschleppten Menschen mit Behagen, oft auch mit Zuneigung. Die hatten es gut bei uns. Die haben mit uns Kindern gespielt und gelacht und gesungen. Die wohlmeinenden Erzähler wussten nicht, oder wollten nichts wissen, von der wachen Zurückhaltung, dem Miβtrauen, der Verachtung oder dem Neid, der Über- oder Unterschätzung des Feindes, die in diesen unbezahlten Haushaltshilfen gesteckt haben muss.Und wenn es einigen von denen doch manchmal im Feindesland gemütlich wurde und sie mit den Feinden sympathisierten, so hatte der Feind sie ja untergekriegt und sie hatten ein Stück ihrer Identität aufgegeben. Wenn die damaligen deutschen Kinder, inzwischen Erwachsene, die für mich diese Erinnerungen auskramten, diesen Konflikt nicht wahrhatten, so kommt das daher, dass keiner sich so ohne weiteres als Feind sieht. Der Feind ist immer der andere, wie könnte man selber ein Feind sein, besonders wenn man lieb zu Fremden und der Augapfel der Eltern ist. Man vermied das Wort Zwangsarbeiter, wenn man von ihnen sprach und man zuckte zusammen, wenn ich mich nicht scheute, das Wort Sklavenarbeit in den Mund zu nehmen.
Zum Beispiel, in Oldenburg, da hielt ich einen Vortrag an der Universität über ein literarisches Thema (ich glaube es war über Kleist und den Sklavenaufstand im heutigen Haiti, in San Domingo, eine seiner groβen Novellen). Nachher beim Wein, erzählt eine pensionierte Studienrätin, Gastarbeiter hätten während des Kriegs auf dem Bauernhof, wo sie aufwuchs, gearbeitet. “Die waren nicht zu Gast,” sage ich stur, “die waren Zwangsarbeiter”. “Ja, ja,” erwidert sie, in Erinnerung versunken, “Kriegsgefangene waren das, Polen.” Ich lass nicht so leicht locker. Auch keine Kriegsgefangenen, sage ich, der Krieg mit Polen war längst zuende, der hat nicht lange gedauert, Zivilisten waren das, Verschleppte, auch Frauen, die zu Hause ihre eigenen Familien hatten. Sie sieht mich ernst an, und ich denke noch, die ist ein gutmütigerer Mensch als ich es bin, denn sie ist nicht so aggressiv verbissen wie ich. “Ja, ja, Zwangsarbeiter,” sagt sie, “wie traurig,ein Pole und eine Polin.” Aber der Mann, der Pole, der sei gar nicht hasserfüllt gewesen, sondern hätte ihnen ein Pferd, das polnische Banden gestohlen hatten, wieder besorgt. Versöhnlich sei er gewesen. — Immerhin, ich hab’ sie dazu gebracht, zuzugeben, dass es da etwas zum Versöhnen gab.

Meine Herren und Damen, ich habe jetzt eine ganze Weile
über moderne Versklavung als Zwangsarbeit in Nazi-Europa gesprochen und Beispiele aus dem Verdrängungsprozess zitiert, wie er im Nachkriegsdeutschland stattfand. Aber eine neue Generation, nein, zwei oder sogar drei Generationen sind seither hier aufgewachsen, und dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Groβherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Auβenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind. Das war der Hauptgrund, warum ich mit groβer Freude Ihre Einladung angenommen und die Gelegenheit wahrgenommen habe, in diesem Rahmen, in Ihrer Hauptstadt, über die früheren Untaten sprechen zu dürfen, hier, wo ein gegensätzliches Vorbild entstanden ist und entsteht, mit dem bescheiden anmutendem und dabei heroischem Wahlwort: Wir schaffen das.

Ich danke Ihnen für diese Einladung.

Polit-Thriller im Kirchenkino

Der Staat gegen Fritz Bauer. Heute im Kirchenkino des Film-Eck in Wermelskirchen. Um Zwanzig Uhr. Aus Anlaß des Holocaust-Gedenktages ein Polit-Thriller über die junge Bundesrepublik, das Adenauerregime und die Mühen des Frankfurter Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, Verantwortliche des NS-Regimes strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen.

Film-Eck

Boelongan. In Erinnerung an Kurt und Cläre Wohl

Heute findet um sechzehn Uhr in der Kirche in Hünger ein bemerkenswertes Konzert statt: Der Kölner Künstler Hartmut Zänder, Großneffe von Kurt und Cläre Wohl, wird mit seiner Band indonesische Musik, Schattenspiele und Bilder zeigen. Sie erinnern an die Lebens- und Leidensgeschichte deBoelungan_1s jüdischen Arztes Kurt Wohl, der Neunzehnhundertvierzig vor den Nationalsozialisten aus Wermelskirchen fliehen musste, und seiner damaligen Verlobten und späteren Frau Cläre. Sie lebten bis in die späten 50er Jahre in Indonesien im Exil und kehrten dann nach Wermelskirchen zurück, wo sie eine Wohnung in der Dürholt’schen Villa an der Dabringhauser Straße bezogen. Schon die Premiere von Boelongan im Kölner Rautenstrauch Joest Museum am siebten November war ein voller Erfolg. Alle Kartenanfragen mußten in der letzten Woche abgewiesen werden. Der Eintritt ist frei. Es wird um Spenden gebeten.

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Der Wermelskirchener Journalist Armin Himmelrath wird einführend kurz das Leben von Kurt und Cläre Wohl vorstellen. Der jüdische Arzt Kurt Wohl hat sich nach seinem Studium in Freiburg und Breslau in Wermelskirchen niedergelassen und hier seine Praxis betrieben. Bis ihn die Nazis zwangen, Deutschland zu verlassen. Neunzehnhundertneununddreißig emigriert er zu seinem Sohn in Java, der dort für eine Remscheider Firma tätig ist. Ein Jahr später werden beide von den Holländern als Deutsche interniert. Mehr heute um sechzehn Uhr in der Kirche in Hünger.

Geschichte in Geschichten

Geschichte lebt. Sie ist geronnene Vergangenheit. Aber sie kann zum Leben erweckt werden, wenn sie spannend erzählt, wenn sie in Geschichten vermittelt wird. Wenn sie sinnlich ist, wenn man sich die Menschen in der Zeit vorstellen kann, sie anschauen, wenn man ihre Orte aufsuchen kann, ihre Häuser, Schulen oder Straßen, wenn sie buchstäblich begreifbar und begehbar gemacht wird. Ein Stadtspaziergang unter der Leitung des Journalisten und Wermelskirchenkenners, Armin Himmelrath, am vergangenen Sonntag aus Anlaß des neunten Novembers war eine solche nachgerade lustvolle Geschichtsentdeckung. Trotz des schwierigen Themas. Wermelskirchen unterm Hakenkreuz, hieß das Ganze. Ein Stadtspaziergang rund um die Kattwinkelsche Fabrik mit einem besonderem Schwerpunkt auf dem Alltag und dem Leben von Kindern und Jugendlichen im Nationalsozialismus. Anderthalb Stunden feiner Geschichtsunterricht. Ein Spaziergang, während dessen man dem Leben von Gertrud, Ingeborg oder Christine näherkam. IMG_3114Eine Ortsbegehung, während der man etwas über die Reichsjugendflagge erfahren konnte und warum sie vor der Dörpfeldschule hing. Und auf den sadistischen Lehrer Scheier traf. Und auf ukrainische Mädchen, die hier als Zwangsarbeiterinnen schuften mußten. Und um ihre Jugend betrogen wurden. Eine Stadtwanderung, auf der man Stolpersteine besichtigen konnte, das alte Rathaus, das längst nicht mehr besteht und Parkplätzen weichen mußte, und das Gefängnis der Kleinstadt. Kinder spazierten mit und Jugendliche, Erwachsene ohnehin. Armin Himmelrath ist ein wahrer Quell spannender und anrührender Geschichten, die soviel über unsere Heimatstadt und ihre Geschichte erzählen. IMG_3110Mit Hilfe historischer Fotos oder anderer Dokumente, Zeugnisse, Freischwimmerausweise, Presseartikel tauchte man ein in den Alltag vor sechzig,  siebzig Jahren. Ein gelungenes Unternehmen, für das der Volkshochschule Bergisch Land sowie dem Stadtführer höchstes Lob gebührt. Eine Unternehmung, die laut nach Fortsetzung ruft.