Bürgerliche Koalition, geistig-politische Wende. Mit diesen Kennzeichnungen sind sie angetreten, nach der Bundestagswahl, CDU/CSU und FDP. Bürgerlich. Welch großes Wort. Eine Koalition der bürgerlichen Manieren, des bürgerlichen Anstandes ist es indes auf keinen Fall. Wildsau, Rumpelstilzchen, Gurkentruppe – nur einige der Wertungen, mit denen sich die schwarz-gelben Koalitionäre nachgerade täglich wechselseitig überziehen. “Übellaunig, uninspiriert, auf Krawall gebürstet arbeiten sich die Koalitionsparteien aneinander ab und vermitteln den Eindruck von Leuten, die es nur noch schwer miteinander aushalten.” So Dietmar Riemer vom Norddeutschen Rundfunk heute in einem Kommentar. “Der kommunikative Offenbarungseid der politischen Eliten hat sich bereits als Lachnummer bei Jugendlichen etabliert, die doch angeblich zu sozialer Verantwortung und gegenseitigem Respekt erzogen werden.” Dies äußert auf der gleichen Seite Christiane Meier vom Westdeutschen Rundfunk und fährt fort: “Die Wildsau als Sprachbild, die Gurkentruppe als Antwort, der Kuhhandel als Handlungsanweisung und die gegenseitige Verleumdung, gekoppelt mit politischen Hinterhalten und Unehrlichkeiten als Alltagsspektakel -das also sind die Vorbilder für unsere Kinder. Wie soll man einem 13-jährigen erklären, dass man nicht lügt, keine Schimpfworte benutzt und einander respektiert?” Und bei Mark Kleber von Südwestrundfunk heißt es: “Ob der Ärger um die Kopfpauschale, die Wehrpflicht, Sicherungsverwahrung oder eben Opel: Nirgendwo eine Gemeinsamkeit. So sieht also die geistig-politische Wende aus, die FDP-Chef Westerwelle versprochen hatte. Stimmt, das ist eine Wende – zum Schlechteren. Die Liberalen erpressen in ihrer Verzweiflung jetzt sogar die Kanzlerin damit, den gemeinsamen Bundespräsidenten-Kandidaten Christian Wulff nicht zu wählen. Zustimmung nur, wenn keine Steuern erhöht werden. So gräbt man mit Schaufelbaggern weiter an dem Loch, in dem die Koalition zusehends verschwindet.” Bürgerliche Koalition, geistig-moralische Wende. Die Koalition, die Regierung taugt nicht als Bild, um etwa über die Bedeutung einer bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Potentiale nachzudenken. Koalition und Regierung sind weit von allen möglichen Vorstellungen eines irgendwie noch bürgerlichen Diskurses entfernt. Eiferer und Ideologen prägen das Bild, fernab von politischer oder ökonomischer Wirklichkeit, von guter und genauer Kenntnis der Lebensverhältnisse der Menschen, in deren Interessen zu handeln sie geschworen haben. Eiferer und Ideologen bestimmen – noch – die Debatte, in allen Koalitionsparteien, in der FDP jedoch zuvörderst. Wer jemals selbst ein Eiferer war oder ein Missionar, der erkennt sich und seine Vergangeheit wieder in diesen Gestalten. Ich war ein solcher. Und andere auch. “Ich habe in letzter Zeit sehr oft Begegnungen mit dieser jungen Generation von Neoliberalen in Organisationen, in Wirtschaftsinstituten und so. Ich bin da neulich vom Tisch gegangen und habe gedacht, ich erkenne diese fast sektenmäßige Anbetung wieder, in diesem Fall die Marktgläubigkeit. Diese Ausblendung von Lebenserfahrung, diese Blauäugigkeit. Ich habegedacht, ich gucke mir selbst ins Gesicht. Dieses Gerede vom Markt und seinen Siegen, das klingt für mich wie unser Gerede vom Sieg der Weltrevolution.” So Krista Sager, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen in einem Disput von sechzehn “Alt-Achtundsechzigern” aus Bremen, unter dem Titel: “Bürgerlich bis auf die Knochen”. Im Zentrum der Idee einer bürgerlichen Gesellschaft stehen freie und mündige Bürger, die Citoyens, die in einer modernen, freien und säkularisierten Gesellschaft ihre Verhältnisse vernünftig, selbständig und friedlich regeln, ohne obrigkeitsstaatliche Gängelung. Diese Idee richtet sich gegen feudale Verhältnisse, gegen Geburtsprivilegien, gegen ständische Ungleicheit, gegen kirchliche Orthodoxie. Eine bürgerliche Gesellschaft freier Bürger setzt auf Arbeit, Leistung und Bildung, auf Vernunft statt Tradition, auf individuelle Konkurrenz und genossenschaftliche Gemeinsamkeit. Die bürgerliche Gesellschaft bedarf des Marktes, des Rechtsstaates, der parlamentarischen Demokratie und ihrer Institutionen, öffentlicher Kommunikation und Medien, einer kritischen Öffentlichkeit. Seine Basis hatte die bürgerliche Gesellschaft zunächst im sich formierenden Besitzbürgertum, den Bourgeois. Der Tendenz nach aber ist die bürgerliche Gesellschaft ein Programm für alle, eine universale Idee, die unter dem Motto: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die umfassende Teilnahme und Verantwortung der Staatsbürger zu organisieren sucht und mithin als Bürger mehr und mehr den Citoyen als den Bourgeois versteht. Jens Hacke schrieb bereits 2006 in der TAZ: “Denn wir haben ja gar keine andere Wahl, als an einem Idealbild des Bürgers festzuhalten. Es ist der einzige Begriff, mit dem wir das menschliche Bedürfnis nach Individualität und Gemeinschaftsbindung gleichermaßen ausdrücken können. (…) Die Debatte um eine neue Bürgerlichkeit reflektiert auf gesunde Weise die Suche nach dem Gemeinwohl im klassischen Sinn.” Linke und Altachtundsechziger auf der Suche nach dem die Gesellschaft verbindenden Begriff, nach der Substanz der bürgerlichen Gesellschaft, die von Liberalen und Konservativen zugunsten der Marktradikalität, einer unbürgerlichen Ellbogengesellschaft aufgegeben zu sein scheint. Interessant. Oder? Bürgerlichkeit ist heutzutage nicht auf die eher kleine soziale Schicht des Bürgertums beschränkt, sondern wirkt weit auch in andere soziale Milieus hinein. Bürgerlichkeit ist also kein Alleinstellungsmerkmal bestimmter politischer Gruppierungen oder Parteien mehr, der konservativen oder liberalen Partei etwa. Bürgerlichkeit ist ein Kennzeichen der Mitte der Gesellschaft und gewiß auch all der politischen Parteien, die in den Parlamenten vertreten sind, wenn man von rechtsradikalen oder terroristischen Gruppen absieht. Wir leben in einer bürgerlichen Gesellschaft. Aber die Parteien der schwarz-gelben Koalition werden derzeit den Grundgedanken dieser Gesellschaft nicht oder kaum gerecht. Sie bedienen jeweils ihr Klientel. Soziale Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Konsens, rationales politisches Handeln im Interesse der Gesamtgesellschaft, des Gemeinwohls verschwinden hinter den Partikularinteressen. Bürgerliches Handeln verliert eben nicht den Blick für soziale Ungerechtigkeit, bürgerliches Handeln ist gerichtet gegen die Spaltung der Gesellschaft, bürgerliches Handeln hat eine Idee von der gedeihlichen Entwicklung der ganzen Gesellschaft. Schwarz-gelb ist keine bürgerliche Koalition. Und sie benehmen sich nicht wie anständige Bürger.