Schlagwort: Dr. David Kermani

Grundgesetz II

Ein wundervoll bündiger Satz – „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ – geriet 1993 zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinander gestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: daß Deutschland das Asyl als ein Grundrecht praktisch abgeschafft hat. Muß man tatsächlich daran erinnern, daß auch Willy Brandt, nach dem heute der Platz vor dem Bundeskanzleramt benannt ist, ein Flüchtling war, ein Asylant? Auch heute gibt es Menschen, viele Menschen, die auf die Offenheit anderer, demokratischer Länder existentiell angewiesen sind – und Edward Snowden, dem wir für die Wahrung unserer Grundrechte viel verdanken, ist einer von ihnen. Andere ertrinken jeden Tag im Mittelmeer, jährlich mehrere Tausend und also mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch während unserer Feierstunde. Deutschland muß nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen. Aber es hat genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittländer abzuwälzen. Und es sollte aus wohlverstandenem Eigeninteresse anderen Menschen eine faire Chance geben, sich um die Einwanderung legal zu bewerben, damit sie nicht auf das Asylrecht zurückgreifen müssen. Denn von einem einheitlichen europäischen Flüchtlingsrecht, mit dem 1993 die Reform begründet wurde, kann auch zwanzig Jahre später keine Rede sein, und schon sprachlich schmerzt der Mißbrauch, der mit dem Grundgesetz getrieben wird. Dem Recht auf Asyl wurde sein Inhalt, dem Artikel 16a seine Würde genommen. Möge das Grundgesetz spätestens bis zum 70. Jahrestag seiner Verkündung von diesem häßlichen, herzlosen Fleck gereinigt sein. Dies ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir kennen. (…) Aufs Ganze betrachtet, geht es in Deutschland ausgesprochen friedlich, immer noch verhältnismäßig gerecht und sehr viel toleranter zu als noch in den neunziger Jahren.  Ohne es eigentlich zu merken, hat die Bundesrepublik – und da spreche ich noch gar nicht von der Wiedervereinigung! – eine grandiose Integrationsleistung vollbracht. Vielleicht hat es hier und dort an Anerkennung gefehlt, einer deutlichen, öffentlichen Geste besonders der Generation meiner Eltern gegenüber, der Gastarbeitergeneration, wie viel sie für Deutschland geleistet hat. Doch umgekehrt haben vielleicht auch die Einwanderer nicht immer genügend deutlich gemacht, wie sehr sie die Freiheit schätzen, an der sie in Deutschland teilhaben, den sozialen Ausgleich, die beruflichen Chancen, kostenlose Schulen und Universitäten, übrigens auch ein hervorragendes Gesundheitssystem, Rechtsstaatlichkeit, eine bisweilen quälende und doch so wertvolle Meinungsfreiheit, die freie Ausübung der Religion. Und so möchte ich zum Schluß meiner Rede tatsächlich einmal in Stellvertretung sprechen und im Namen von – nein, nicht im Namen von allen Einwanderern, nicht im Namen von Djamaa Isu, der sich fast auf den Tag genau vor einem Jahr im Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt mit einem Gürtel erhängte, weil er ohne Prüfung seines Asylantrages in ein sogenanntes Drittland abgeschoben werden sollte, nicht im Namen von Mehmet Kubasik und den anderen Opfern des Nationalsozialistischen Untergrunds, die von den ermittelnden Behörden und den größten Zeitungen des Landes über Jahre als Kriminelle verleumdet wurden, nicht im Namen auch nur eines jüdischen Einwanderers oder Rückkehrers, der die Ermordung beinah seines ganzes Volkes niemals für bewältigt halten kann –, aber doch im Namen von vielen, von Millionen Menschen, im Namen der Gastarbeiter, die längst keine Gäste mehr sind, im Namen ihrer Kinder und Kindeskinder, die wie selbstverständlich mit zwei Kulturen und endlich auch zwei Pässen aufwachsen, im Namen meiner Schriftstellerkollegen, denen die deutsche Sprache ebenfalls ein Geschenk ist, im Namen der Fußballer, die in Brasilien alles für Deutschland geben werden, auch wenn sie die Nationalhymne nicht singen, im Namen auch der weniger Erfolgreichen, der Hilfsbedürftigen und sogar der Straffälligen, die gleichwohl genauso zu Deutschland gehören, im Namen zumal der Muslime, die in Deutschland Rechte genießen, die zu unserer Beschämung Christen in vielen islamischen Ländern heute verwehrt sind, im Namen also auch meiner Eltern und einer inzwischen sechsundzwanzigköpfigen Einwandererfamilie – möchte ich sagen und mich dabei auch wenigstens symbolisch verbeugen: Danke, Deutschland.

 

Aus der Rede von Dr. Navid Kermani anläßlich des fünfundsechzigsten Geburtstages des Grundgesetzes

Würde

Wenn ich einen einzelnen Tag, ein einzelnes Ereignis, eine einzige Geste benennen wollte, für die in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Wort Würde angezeigt scheint, dann war es – und ich bin sicher, daß eine Mehrheit im Bundestag, eine Mehrheit der Deutschen und erst recht eine Mehrheit dort auf der himmlischen Tribüne mir jetzt zustimmen werden – dann war es der Kniefall von Warschau. (…)  Dieser Staat hat Würde durch einen Akt der Demut erlangt. Wird nicht das Heroische gewöhnlich mit Stärke assoziiert, mit Männlichkeit und also auch physischer Kraft, und am allermeisten mit Stolz?  Hier jedoch hatte einer Größe gezeigt, indem er seinen Stolz unterdrückte und Schuld auf sich nahm – noch dazu Schuld, für die er persönlich, als Gegner Hitlers und Exilant, am wenigsten verantwortlich war –, hier hatte einer seine Ehre bewiesen, indem er sich öffentlich schämte, hier hatte einer seinen Patriotismus so verstanden, daß er vor den Opfern Deutschlands auf die Knie ging.

Aus der Rede von Dr. Navid Kermani anläßlich des fünfundsechzigsten Geburtstages des Grundgesetzes