Schlagwort: Gesundheit

“Intellektuelle Legasthenie”

Juli Zeh schreibt mir aus der Seele. In der Welt. Man lese und staune. Unter der Überschrift “Selbstgewählte Dummheit” polemisiert die junge Schriftstellerin und Juristin gegen den Sieg des Körpers über den Kopf in unserer Gesellschaft. Vier Millionen bundesdeutsche Erwachsene gelten als funktionale Analphabeten. Unsere Schulkinder haben Probleme mit dem Lesen. Weil Astrid Lindgren für einen durchschnittlichen Achtjährigen zu schwierig ist, werden in Schulbüchern vereinfachte Fassungen bekannter Texte veröffentlicht, Lindgren light. Eine Untersuchung der Universität Dortmund ergab, daß nur noch die wenigsten Studenten einen komplexen und abstrakten Text durchdringen, “weshalb nicht mehr von Lesefaulheit, sondern von “intellektueller Legasthenie” zu sprechen” sei. Ein Blick in die Schlagzeilen der letzten Monate beweise das. “Während sich Studenten und Schüler gegen die Auswirkungen der Bologna-Umstellung wehren, kämpfen Presse und Politik lautstark gegen H1N1. Die Bundesländer haben 600 Millionen Euro, also einen Betrag, der in etwa dem geschätzten Gesamtaufkommen der Erststudiengebühren im Wintersemester 09/10 entspricht, für einen Impfstoff ausgegeben, der von der Bevölkerung nicht angenommen wird und deshalb zur Kostendeckung ins Ausland verscherbelt werden muss. Bislang hat Deutschland 94 Schweinegrippe-Opfer zu verzeichnen. Auf “normale” Influenza sind, je nach Statistik, 6000 bis 20 000 Todesfälle pro Jahr zurückzuführen.” In einer Demokratie seien politische Entscheidungen auf eine gesamtgesellschaftliche Prioritätensetzung zurückzuführen. “Wenn für Bildung auf politischer Ebene notorisch das Geld und auf privater Ebene notorisch die Zeit fehlt, dann stellt dieser Zusammenhang keinen Zufall dar. (…) Wer keine Zeit hat, ein Buch zu lesen, während es für die tägliche Stunde Fitnesscenter oder Yoga durchaus reicht; wem ein Theaterbesuch zu teuer ist, die neue Anti-Falten-Creme mit dreifachem Wirkstoffkomplex aber nicht; wer politische Demonstrationen sinnlos findet und am Wochenende mit Tausenden von Gleichgesinnten in bunten Wurstpellen durch die Innenstadt joggt – der muss sich nicht wundern, wenn sein Kind in der Schule Lindgren light zu lesen bekommt.” Wer wissen wolle, wie es um unsere Präferenzen bestellt ist, müsse nur die Gehirnwaschmaschine namens Werbung einschalten. “Ob Fernsehen, Radio oder Plakate – gezeigt werden nicht Menschen, die 23 mal 7 im Kopf multiplizieren, “Satellit” buchstabieren oder das deutsche Wahlsystem erklären können. Sondern solche, die jung, schön und leistungsfähig sind, weil sie das Richtige essen, die richtige Kosmetik benutzen und mehr Vitamin-Präparate als Bücher im Schrank haben. Auch der Spam in meinem E-Mail-Postfach bietet keine Goethe-Gesamtausgaben, sondern Schwanzverlängerungen und Diätprogramme an. Es lebe der Körper. Bildung ist unsexy.” Dahinter stecke ein Paradigmenwechsel, der die geistigen Qualitäten des Menschen von Platz Eins der Werteskala verdrängt habe und das materiell Messbare über alles setze. Das sei Ausdruck der umfassenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche, nach deren Gesetzen Zeit niemals mehr als Geld sein kann und kurzfristige Effizienzerwägungen mehr zählen als das längerfristig angelegte humanistische Bildungsideal. “Der ideale Mensch von heute muss funktionieren. Er darf nicht nur nicht krank sein, er muss sich auch sonst stets innerhalb der Norm bewegen. Das Verbot von Abweichungen wird mit Kostenrelevanz begründet. Entgegen dem Gerede von gesellschaftlicher Solidarität lädt jeder Bürger Schuld auf sich, dessen individueller Weg die sogenannte Gemeinschaft teuer zu stehen kommt. Deshalb muss sich ein Student, der länger als acht Semester die Uni besucht, ebenso schämen wie ein dicker Mensch, der als potenzieller Herzpatient eines Tages erhöhte Pflegeleistungen in Anspruch nehmen könnte. So kommt es, dass Juraprofessoren weitgehend ungehört darüber klagen, dass angehende Anwälte nicht mehr in der Lage sind, einen korrekten Satz zu formulieren, während sich Volksbegehren mit Rauchverboten beschäftigen und das Gesundheitsministerium die Hälfte der Bundesbevölkerung für fettleibig erklärt.”

Hauptsache, wir sind gesund.

Gesundheit als Ware

Ich hadere immer noch mit der Sendung von Anne Will am vergangenen Sonntag. Es ging, mal wieder,  um das Ende des Sozialstaates. Meine Lust am Polit-Talk ist seit geraumer Zeit schon sehr gedämpft. Mein Erregungspotential entsprechend gering. Daß der FDP-Bundestagsabgeordnete, Martin Lindner,  schneidig für den Umbau des bundesdeutschen Sozialsystems zu Lasten der abhängig Beschäftigten plädierte, wen kann das derzeit wirklich im Mark erschüttern? Daß aber ein Kommunikationswissenschaftler, Norbert Bolz, die Gesundheit und das Gesundheitssystem kurzerhand zum Marktgeschehen machte, das wirkt in mir nach. Natürlich findet im Gesundheitssystem auch Marktgeschehen statt. Aber: Gesundheit ist kein Produkt, keine Ware, schonmal gar kein Luxusgut. Im Gründungsvertrag der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen von 1946 heißt es: “Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Der Besitz des bestmöglichen Gesundheitszustandes bildet eines der Grundrechte jedes menschlichen Wesens, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Anschauung und der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung. Die Gesundheit aller Völker ist eine Grundbedingung für den Weltfrieden und die Sicherheit; sie hängt von der engsten Zusammenarbeit der Einzelnen und der Staaten ab.” Gesundheit ist also keine Produkt des Gesundheitsmarktes, auf dem sich Wohlhabende mehr leisten können müssen als die Mehrheit der armen Schlucker. Gesundheit hat den Status eines Menschenrechts. Das vergessen die schneidigen Einschneider ins soziale Netz geflissentlich. Und eine solidarische Finanzierung des Gesundheitswesens, in die sich alle nach ihren Kräften und Vermögen einbringen, ist wesentliche Voraussetzung fürs Gelingen eines solchen Systems, nicht aber die Position der Gleichmacher, der Kopfpauschalisten.